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Im alten Reichsratssaal des Parlaments fand am 19. Dezember 1945 die konstituierende Sitzung des ersten nach dem Krieg frei gewählten Nationalrats statt. Heute dient der Saal für besondere Sitzungen, im Bild für einen Vortrag des ehemaligen Uno-Generalsekretärs Kofi Annan im Februar 2014.

Foto: APA / Hans Punz

Um zwanzig nach zehn Uhr vormittags betrat an diesem denkwürdigen Mittwoch, dem 19. Dezember 1945, die Provisorische Regierung den Saal - es war der Reichsratssaal, da der Plenarsaal zerstört war - und wurde, wie das Stenographische Protokoll berichtet, "mit lebhaftem, anhaltendem Beifall und Händeklatschen, an dem sich auch die Galerien beteiligen, begrüßt".

Der erste nach dem Zweiten Weltkrieg frei gewählte Nationalrat trat in jenem Haus, das die Nazis als "Gauhaus" missbraucht und die Wiener, wie Alterspräsident Karl Seitz (SPÖ) sagte, mit dem Spottnamen "Gaudihaus" bedacht hatten, zur konstituierenden Sitzung zusammen, und die 165 Abgeordneten beschlossen die acht Monate zuvor am 27. April 1945 von Vertretern der SPÖ, ÖVP und KPÖ unterzeichnete "Proklamation über die Selbstständigkeit Österreichs".

Zuerst waren die Parteien, dann der Staat

Die Unabhängigkeitserklärung war also "eine Erklärung der Parteivorstände. Österreich ist eine Parteiengründung", heißt es dazu im Buch Die Abgelegene von Alfred J. Noll und Manfried Welan. Und daraus resultiert ein zentrales politisches Erbe von 1945, sagt Politikwissenschafter Fritz Plasser im STANDARD-Gespräch: "Der ausgeprägte Parteienstaat. Die Republik wurde von Parteien gegründet, als es noch keinen Staat gab. Dieses Parteienstaatliche ist bis heute ein prägender Zug der politischen Kultur Österreichs."

Im Zweifel zusammen

Trotz enormer Schrumpfungskur der vormaligen Großparteien seien "Einfluss und Zugriffsmöglichkeiten noch sehr stark und entwickelter als in anderen westeuropäischen Staaten", sagt Plasser. So rutschte die ÖVP von 49,8 Prozent 1945 auf 24 Prozent 2013, für die SPÖ ging es von 44,6 auf 26,8 Prozent. Der Unterschied zwischen der "Hoch-Zeit" des parteipolitischen "Patronagewesens" - mit Zugriff etwa auf die verstaatlichte Industrie - und heute sei, dass mittlerweile mehr Transparenz und Antikorruptionsmaßnahmen etabliert seien. Allerdings: "Die "Gründungsrolle der Parteien ist geblieben."

Auch die zweite Seite des historisch gewachsenen Kräftedreiecks der Macht prägt die österreichische Politik nach wie vor: Konkordanz statt offener Konflikt - im Zweifel für die Zusammenarbeit.

Oder in der Diktion von Nationalratspräsident Leopold Kunschak (ÖVP) von 1945: "Wir stehen zusammen und stellen die Parteiinteressen zurück, weil wir alle miteinander die Pflicht empfinden, (...) dem Volke und dem Vaterlande zu dienen."

Im Gleichschritt mit den Sozialpartnern

Das hieß fortan Konsens, doppelt abgesichert im Gleichschritt mit den Sozialpartnern - mit der "Konsequenz", so Plasser, dass die Zweite Republik meistens großkoalitionär war, mit ein paar "Ausreißern" wie der Alleinregierung von Josef Klaus (ÖVP) bzw. länger Bruno Kreisky (SPÖ) oder ab 2000 Wolfgang Schüssels (ÖVP) schwarz-blauer Koalition.

Auch heute gebe es trotz des "Stabilitätsverlusts auf Kosten der beiden republiksgründenden Parteien" und des Erstarkens der FPÖ "keine Alternative zur großen Koalition", sagt auch Anton Pelinka, Professor für Politikwissenschaft und Nationalismusstudien an der Central European University in Budapest, zum Standard.

Er nennt die Fähigkeit zweier ehemaliger Bürgerkriegsparteien, "die noch elf Jahren zuvor aufeinander geschossen haben, zusammenzufinden und Stabilität zu schaffen, indem das katholische und das sozialistische Lager die Macht aufteilen, rückblickend durchaus beeindruckend". Das bedeutete auch: "Die Großparteien haben sich de facto garantiert, dass sie nicht von der Macht ausgeschlossen werden - was Sicherheit gebracht hat, aber eben auch ein Moment der Versteinerung."

Stabil, ultrastabil, versteinert

Sein Kollege Plasser beschreibt es so: Wirtschaftsaufschwung, enorme Wohlfahrtsgewinne und ein Höchstmaß an sozialer Sicherheit - "all das ist rückführbar auf das Ringen um Kompromisse, statt auf Konflikt zu setzen. Manche würden es Konfliktscheu nennen. Aber das war in den Anfangsjahren die Voraussetzung für eine stabile, ja: ultrastabile, hyperstabile Entwicklung der Republik."

Das Wort "ultrastabil" steht jedoch nicht zufällig in der Nachbarschaft von "versteinert". Die heutige Diagnose dazu stellt Pelinka: "Reformstau in vielen Bereichen." Neben der Bildungsblockade nennt er als ein Erbstück - 1955 "vernünftig", heute "funktionslos" - die Neutralität: "Sie ist populär, weil sie billig ist, ein Ausdruck einer Wärmestubenmentalität in einer Welt, die sich stark geändert hat."

Geheiligtes Erbe

Das gilt auch nach innen und führt zur dritten Seite des österreichischen Politikdreiecks. In der Rede des damaligen Staatskanzlers Karl Renners (SPÖ) am 19. Dezember 1945 kam sie daher als "ein selbstbewusstes, auf seine eigene Art stolzes Bekenntnis zur gemeinsamen Staatlichkeit wie zur Autonomie seiner Teile - kurz, zu allen vertrauten, überlieferten, geheiligten Einrichtungen der demokratischen Republik Österreich". - Eine emphatische Umschreibung für den Föderalismus, in Österreich eigentlich ein "Verteilungsföderalismus" (Plasser).

In Summe war das Dreieck Parteien/Konkordanz/Föderalismus "viele Jahre absolut förderlich", sagt Plasser, "aber: Es ist zu einer Reformbremse geworden."

Und jetzt? Geheiligtes Erbe von 1945? Karl Renner sagte damals: "Von nun an gelte in Wahrheit und unzerstörbarer Wirklichkeit: Österreich wird ewig stehn!"

"Ewig stehn", ja, irgendwie sicher. Nur stehenbleiben sollte das Land nicht. "Ein Moment der Veränderung wäre notwendig", meint Plasser. Wie? Die Antwort liegt im Österreich-Dreieck der Macht. (Lisa Nimmervoll, DER STANDARD, 25.4.2015)