Wer die Unabhängigkeitserklärung liest, die das Geburtsdokument der Zweiten Republik ist, bekommt viel vom Gründergeist mit: Es unterzeichneten nicht nur die Sozialisten und die Christlichsozialen, sondern auch die Kommunisten. Das Gemeinsame stand im Vordergrund bei diesem Projekt Österreich – freilich auch die extra betonte Opferrolle und der Wille, die Vergangenheit unter den Teppich zu kehren.

Diese Identitätskonstruktion, die auch in der Sozialpartnerschaft ihren Ausdruck fand, ist ein Grund für die erfolgreiche Entwicklung der Zweiten Republik. Österreich hat es trefflich verstanden, aus dem Kalten Krieg Vorteile zu ziehen. Dank der geografischen Lage und nicht zuletzt wegen der Kleinheit des Landes verstand es Wien, sich als Ort der Begegnung zwischen Ost und West zu inszenieren. Dabei half auch, dass Wien Standort von Organisationen der Vereinten Nationen wurde.

Teil dieser konstruierten Identität war auch die immerwährende Neutralität, die vierzig Jahre lang ein wichtiger Anker war. Nach dem EU-Beitritt 1995 ist die Neutralität zu einer Schimäre geworden. Denn wer sich an EU-Battlegroups beteiligt, der zieht in den Kampf und ist nicht neutral.

Die Neutralität ist aber im eigenen Lande zu einer Beschwörungsformel geworden, die außerhalb der Staatsgrenze auch als Ausrede gesehen wird. "Neutralität ist eine Form von Unsolidarität", beschrieb der damalige Nato-Generalsekretär Javier Solana, ein spanischer Sozialdemokrat, die österreichische Haltung. Zwar beteiligte sich Österreich über Jahrzehnte an UN-Blauhelm-Missionen. Aber wenn es brenzlig wurde, wie zuletzt auf dem Golan, dann bekamen die Österreicher den Rückzugsbefehl aus Wien.

Mit dem EU-Beitritt hat das österreichische Parlament auch an Einfluss verloren. Denn mehr als fünfzig Prozent der in Österreich geltenden Regelungen gehen auf Verordnungen, Richtlinien und Beschlüsse auf EU-Ebene zurück, die in den Mitgliedsstaaten umgesetzt werden müssen. Noch dazu nehmen die Abgeordneten ihr Initiativrecht vergleichsweise selten wahr und stimmen vor allem über Regierungsvorlagen ab. Der österreichische Parlamentarismus ist deutlich weniger ausgeprägt als der deutsche.

Der EU-Beitritt war das letzte große Projekt, das ist schon zwanzig Jahre her. Trotzdem hat Österreich seinen Platz in Europa noch nicht gefunden. Manchmal hält man zu Deutschland, dann setzt man sich ostentativ ab. Aufgrund der historischen Erfahrungen und der geografischen Lage hätte Wien die Möglichkeit gehabt, nach der EU-Osterweiterung 2004 eine politische Führungsrolle zu übernehmen. Als kleines Land wäre Österreich dafür prädestiniert gewesen, und diese Staaten haben damals Allianzen gesucht. Nur wirtschaftlich hat Österreich die Chancen in diesen Regionen genutzt.

Im eigenen Land schafft es die große Koalition, die sich nur noch knapp über der 50-Prozent-Marke hält, nicht, Reformen anzupacken. Die Sozialpartner haben ihre eigenen Interessen im Blick, die Koalitionsparteien genauso. Jede Veränderung wird als Bedrohung empfunden. Es dominiert die Erinnerung an die gute alte Zeit.

Es ist passend, dass just zwei über 70-Jährige – Josef Taus und Hannes Androsch – dem Land zum Geburtstag ein Buch schenken und ins Stammbuch schreiben: "Österreich ist verrostet, verkrustet, erstarrt." Und orientierungslos, mitten in Europa.

(Alexandra Föderl-Schmid, DER STANDARD, 25.4.2015)