Das letzte Mal, dass Baltimore in Flammen stand, war vor 47 Jahren. Nach der Ermordung von Martin Luther King im April 1968 war die Großstadt an der US-Ostküste eine Hochburg der wochenlangen Ausschreitungen, die damals die ganze Nation erschütterten.

Mit diesem blutigen nationalen Trauma - allein in Baltimore gab es sechs Tote und 700 Verletzte - sind die Ereignisse von Montagnacht nicht zu vergleichen. Die Krawalle waren lokal begrenzt und viel weniger Ausdruck eines spontanen Volkszorns als eine gezielte Provokation krimineller Banden, die in Baltimore besonders aktiv sind, wie Zuseher der hochgelobten US-Fernsehserie "The Wire" wissen. Die große Demonstration nach dem Begräbnis von Freddie Gray, dem vorerst letzten prominenten Opfer rassistischer Polizeigewalt, am Wochenende ist meist friedlich verlaufen.

Die Unruhen im Großstadtghetto machen jedoch deutlich, wie schlecht es um die Stellung der Schwarzen auch fünf Jahrzehnte nach ihrer rechtlichen Gleichstellung steht. Dutzende Gesetze gegen Diskriminierung wurden inzwischen verabschiedet, zahlreiche Afroamerikaner haben den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aufstieg geschafft, offener Rassismus ist fast überall im Land verpönt. Die Amerikaner haben zweimal einen schwarzen Präsidenten gewählt, in dessen Kabinett mit Loretta Lynch gerade die erste schwarze Frau als Justizministerin eingezogen ist – Nachfolgerin des Schwarzen Eric Holder.

Millionen junger schwarzer Männer aber bleibt die Chance auf ein Leben in Würde weiterhin verwehrt: Sie wachsen in zerbrochenen Familien in von Kriminalität beherrschten Stadtvierteln auf, erhalten nur eine bruchstückhafte Schulbildung, finden keine Jobs und landen im Gefängnis - ein Teufelskreis von Armut und Gewalt, der sich seit Ferguson im vergangenen Sommer immer öfter in öffentlichen Protesten entlädt.

Warum gerade jetzt? Polizeibrutalität gab es schon früher. Vielleicht hat gerade Barack Obamas Wahl vor sieben Jahren Erwartungen geweckt, die gar nicht erfüllt werden konnten – was jetzt umso mehr Bitterkeit hervorruft. Auch die wirtschaftliche Lage verschärft die Entfremdung. Die Rezession nach der Lehman-Pleite 2008 hat viele Jobs, etwa am Bau, gekostet, die auch im Aufschwung nicht wiederkehren. Die Kluft zwischen Arm und Reich wächst und schafft ein Prekariat ohne Aufstiegschancen. Der Zorn auf die Polizei ist Ausdruck einer tieferen Hoffnungslosigkeit.

Die Unruhen von Baltimore könnten auf andere Großstädte übergreifen, den USA droht ein langer, heißer Sommer. Das würde vor allem wieder die Schwarzen treffen, deren Stadtviertel verwüstet und Geschäfte zerstört werden. Die Unruhen von 1968 trugen zur Bildung schwarzer Ghettos bei und beschleunigten den Niedergang der Innenstädte, der erst in den vergangenen Jahren gestoppt wurde. Baltimore ist ein schlechtes Omen für Los Angeles, Chicago oder New York.

Ein entschlossenes Vorgehen gegen Polizeigewalt, etwa durch den verpflichtenden Einsatz von Körperkameras, könnte die aktuellen Spannungen ein wenig lindern. Aber das Grundproblem bleibt ungelöst: Der amerikanische Traum ist für viele Schwarze – und nicht nur für sie – reine Illusion. Eine Gesellschaft, die theoretisch so viele Chancen zu bieten hätte, lässt einen Teil seiner Bürger einfach zurück. Auf sie wird erst geschaut, wenn es in den Städten brennt. (Eric Frey, DER STANDARD, 29.4.2015)