Wenn Elfriede Hammerl einen Roman mit dem Titel Zeitzeuge vorlegt, der die Geschichte eines "gestrandeten möchtegern-verlegers" erzählt, dann erwartet man vielleicht eine feministische Abrechnung mit einem einsichtslosen Alt-Achtundsechziger. Tatsächlich aber geht die Autorin mit ihrem Dieter W. durchaus wohlwollend, ja empathisch um.

Auch Hammerl, die dieser Tage ihren 70. Geburtstag feierte, ist eine Zeitzeugin der Zweiten Republik, und dieser melancholisch abgekämpfte Mann aus einfachen Verhältnissen lässt sich in manchen seiner Züge und Erfahrungen als ihr Alter Ego betrachten.

Dieter liebäugelt damit, seine Memoiren zu schreiben, was zum Glück Elfriede Hammerl für ihn erledigt hat, denn sein historisches Bewusstsein ist schwach: "dieter ist ein zeitzeuge, aber die politischen ereignisse seiner frühen jugend haben auf einem anderen planeten stattgefunden." Seine Vergangenheit erscheint ihm "wie hinter glas", seine Gegenwart wird im Präsens erzählt.

Ein halbes Germanistikstudium und zwei Ehen hat er hinter sich, die erste mit Ruth, aus "jüdischem kommunistischem adel"; die zweite mit einem Mannequin aus dem Burgenland, der schönen, dunklen Martha, die sich als Trophäe zu gut war. Mit seinen Kindern steht er zu seinem Leidwesen nicht im besten Einvernehmen. Der Verlag, dessen Teilhaber er ist, wird von einem Freund geführt, der sich anschickt, einem rechten Politiker eine Plattform zu bieten. Dieter, sozialdemokratisch erzogen, will sich nicht mehr engagieren, ein republikanischer Mann ohne Eigenschaften, ein Eichendorff-Leser und Wutbürger mit schlechtem Gewissen, ein Menschenfreund mit Berührungsängsten: mit dem "tätowierten pöbel" in der U-Bahn verspürt er keine Solidarität. Zeitzeuge ist ein bald witziges, bald todtrauriges Familienporträt mit rotweißrotem Schlagschatten.

Anhand einer biederen linken Sozialisation erzählt Hammerl nichts Geringeres als eine österreichische Mentalitätsgeschichte – von der historischen Bewusstlosigkeit der fünfziger Jahre über das wenig epochal daherkommende Jahr 1968 bis in die flau erlebte Gegenwart; sie beschreibt prägnant Milieus und die fließenden Grenzen dazwischen, sie schildert Rituale und Distinktionsgewinne, Be- und Erziehungskrämpfe und Enttäuschung. Dabei profitiert die Erzählerin von der satirischen Verve der Kolumnistin, ohne auf schnelles Pointengeld aus zu sein.

Zwei Dinge entbehren der künstlerischen Begründung: die durchgehende Kleinschreibung samt Verzicht auf das scharfe s. Und warum die Autorin meinte, ihrem Helden eine in Würde gealterte Jugendliebe zuführen zu müssen, mit der er sich zum Schluss am Strand von Abbazia ergehen kann. Die Wahrheit des bitteren Nachgeschmacks wäre dieser Geschichte zumutbar gewesen. (Daniela Strigl, Album, DER STANDARD, 2./3.5.2015)