Mitunter kommt es in Peter Handkes "Die Stunde da wir nichts voneinander wussten" auch zu beklemmenden Begegnungen: ein Zusammenstoß der Kulturen im Hamburger Thalia Theater.

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In Peter Handkes Schauspiel Die Stunde da wir nichts voneinander wussten befreit sich das Theater von einer schweren Last. Gezeigt werden keine Figuren, sondern Typen, die sich ganz auf ihr stummes Tun konzentrieren. Der Schauplatz ist "ein freier Platz im hellen Licht".

Der Platz ist wunderbar genau gezeichnet und umschließt doch die ganze Welt. Winde blasen über ihn hin, was famos zum Aufführungsort Hamburg passt. Donner rollen, und manchmal mischen sich sogar mythologische Figuren in das Gewirr der Phantome. Als Freilufttheater ist Handkes Piazza republikanisch, insofern sie Menschen aus völlig unterschiedlichen Klassen und Regionen Quartier gewährt. Wenn auch jeweils kurz. Handkes Schau-Platz ist ein Transitort. Wer ihn quert, tut es in dem sicheren Bewusstsein, ihn bald wieder verlassen zu dürfen.

Jetzt, 23 Jahre nach der Uraufführung, hat man diesen herrlichsten Nicht-Ort der Welt im Hamburger Thalia Theater neu verlegt. Er ist auch nicht allein hamburgisch. Für seine Bespielung zuständig erklärt hat sich das estnische Regie- und Ausstattungspaar Tiit Ojasoo und Ene-Liis Semper. Ihr Versuch, die verblassten Schemen neu zu beleben, wird ab 21. Mai im Rahmen der Festwochen im Theater an der Wien zu bestaunen sein.

Von Handke höchstselbst haben die beiden Gründer des Teaters NO99 die Erlaubnis erwirkt, das Konzept der Platzbeschau ins Heute herüberzudehnen. Es hat sich einiges verändert seit 1992. Nicht nur in Tallinn wird man Zeuge der Neuordnung unserer Gesellschaften.

Süßer Trost der Musik

Hinzugefügt haben sie auf jeden Fall die Tröstung durch die Musik. Ein Countertenor singt mit zuckersüßem Melos szenische Anweisungen. Vor einer grauen Betonmauer huschen die ersten Passanten vorüber. Es herrscht "Rushhour". Die Zuträger des Kapitalismus hetzen so geschäftig über den Platz, als müssten sie allein durch ihr Schritttempo Unabkömmlichkeit demonstrieren. Ojasoo/Sempers Konzept lässt sich am ehesten als physikalische Versuchsanordnung begreifen.

Während im ersten Drittel noch das Bild einer belebten Straße vorherrscht, weitet sich das Spiel recht bald aus. In den Blick rücken die Wohlstandsverlierer. Unterstandslose schieben ihre Habe in Einkaufswagen vorüber. Eine verstockte Alte, die an der Wand einschaut, entpuppt sich als Diebin von billigen Textilien. Eine kommunale Reinigungskraft schiebt die deklassierte Person mit dem Besen von der Bühne.

Was an der fast zweieinhalbstündigen Aufführung dann doch verblüfft, ist der Witzzwang, unter dem sie steht. In Handkes Text kommt es zu allerlei Kollisionen. Menschen treffen aufeinander, ohne der jeweiligen Begegnung ganz gewachsen zu sein. Wunderschöne Frauen stöckeln durch dieses Panoptikum. Jede Einzelne von ihnen scheint, um es mit Romy-Preisträger André Heller auszudrücken, "verwunschen". Hier, im Update anno 2015, sieht man vor allem – zauberhafte – Darstellungsbeamte bei der Arbeit. Die est nischen Künstler haben der Stunde da wir nichts ... die verquere Handke-Poesie doch recht gründlich ausgetrieben. Man freut sich über nährstoffreiche Ergänzungen des Bildervorrats. Und doch wird man den Eindruck nicht los, Ojasoo/Semper hätten erstbeste Einfälle in stummes Handeln übersetzt.

Die Erweiterung unserer Gesellschaft mit den Mitteln der Multikulturalität ist die entscheidende Zubuße gegenüber 1992. Vollends unverständlich bleibt es daher, wenn man die Integrationsschicksale schwarzer Migranten zum Zweck der Pointenmaximierung missbraucht. Ebenso unpräzise ist es, die dringend gebotene Koexistenz der Konfessionen platt zu bewerben – wenn zum jüdischen Gebet an der Klagemauer der Ruf des Muezzins erschallt.

Man hält sich lieber an die sicheren Lacher. Versehrte und Alte werden einem beinharten Casting unterworfen, einem Rollstuhlfahrer wird der beste Blowjob seines Lebens beschert. Das ist alles liebenswürdig gemeint. Und liegt doch ein paar Meter von Peter Handkes Paralleluniversum entfernt. In den Schlussjubel mischten sich vereinzelte Buhrufe. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 2./3.5.2015)