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Die US-Spitzenpolitik beobachtet die Vorgänge in Pakistan.

Foto: REUTERS/White House/Pete Souza/Handout via Reuters/Files

Wenn es stimmt, was Seymour Hersh schreibt, dann muss das Weiße Haus in allen wichtigen Details korrigieren, was es vier Jahre lang über das Kommandounternehmen gegen Osama Bin Laden verlauten ließ. Dann wäre Kathryn Bigelows preisgekrönter Film Zero Dark Thirty reine Fiktion, dann hätte der Kurier Abu Ahmad al-Kuwaiti, der die Amerikaner nach der bisherigen Version unfreiwillig auf die Spur des Al-Kaida-Paten geführt hatte, praktisch keine Rolle gespielt. Bei Hersh liegen die Dinge völlig anders: Demnach hat der pakistanische Geheimdienst ISI nach Abwägung aller Faktoren entschieden, Bin Laden den Amerikanern zu überlassen.

Die Story, wie sie das Weiße Haus erzähle, könnte genauso gut von Lewis Carroll, dem Verfasser von Alice im Wunderland, zu Papier gebracht worden sein, fasst Hersh das Ergebnis seiner Recherchen in einem Essay im London Review of Books zusammen. Die größte Lüge sei es zu behaupten, dass die Pakistaner nicht eingeweiht waren, als eine Spezialeinheit der Navy Seals im Mai 2011 nach Abbottabad flog, um Bin Laden zu töten. Sowohl Ashfaq Parvez Kayani als auch Ahmed Shuja Pasha, Direktor des ISI, hätten nicht nur Bescheid gewusst, sondern auch befohlen, die Aktion nicht zu behindern.

Weißes Haus dementiert

"Dies war durch und durch ein US-Einsatz, sagte der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats von Präsident Barack Obama, Edward Price. Jede andere Darstellung sei "schlicht falsch". Auch Al-Kaida-Experte Peter Bergen, Autor eines Bin-Laden-Buches, spricht von einem "Mischmasch an Unsinn". Nur: Hersh hat Gewicht, hat in Vietnam das Massaker von My Lai aufgedeckt; er hat dokumentiert, wie irakische Häftlinge im Gefängnis von Abu Ghraib gequält wurden.

"Das ist nun einmal mein Job, ich habe schon immer gegen den Strich gebürstet", sagt Hersh am Montag bei CNN, wo ihn ein Moderator mit skeptischen Fragen nur so bombardiert. Der Reporter beruft sich in erster Linie auf einen pensionierten pakistanischen Geheimdienstler, fügt aber hinzu, dass mehrere glaubwürdige Quellen bestätigt hätten, was ihm der Mann anvertraute.

Demnach begann es damit, dass 2010 ein ISI-Offizier a. D. in der US-Botschaft in Islamabad den lokalen CIA-Boss Jonathan Bank sprechen wollte. Er kenne das Versteck Bin Ladens, für sein Wissen wolle er 25 Millionen Dollar. Aus Langley flogen Spezialisten der Geheimdienstzentrale ein: Der Veteran bestand den Test, die Amerikaner glaubten ihm seine Erzählung.

Eine Art Geisel

Demnach soll Bin Laden von 2001 bis 2006 in den Bergen des Hindukusch gelebt haben, bevor ihn lokale Stammesführer gegen Geld an den ISI auslieferten. Dass Bin Laden in Abbottabad lebte, einer Hochburg des Militärs, sei natürlich kein Zufall gewesen. Die ISI-Generäle wollten ihn jederzeit unter Kontrolle haben; in ihrer Rechnung sei er eine Art Geisel gewesen, um Al-Kaida und die Taliban unter Druck zu setzen. Das Kalkül änderte sich, als die USA, nunmehr im Bilde über den Aufenthaltsort des Gesuchten, Druck ausübten – Militärhilfe kürzten, Waffenlieferungen verzögerten.

In dieser Lage habe sich Kayani auf einen Deal eingelassen, wobei er, so zitiert ihn Hersh, auf einem Punkt beharrte: "Ihr müsst ihn töten, sonst gilt unsere Abmachung nicht." Im April 2011 einigte sich der damalige CIA-Chef Leon Panetta mit seinem Amtskollegen Pasha: Washington würde den Geldhahn wieder aufdrehen – und Islamabad im Gegenzug garantieren, dass die Navy Seals nicht auf den Widerstand pakistanischer Militärs stoßen.

Als der Kommandotrupp zu nächtlicher Stunde das Anwesen in Abbottabad stürmte, habe sich Bin Laden weder gewehrt noch eine seiner Ehefrauen als Schutzschild benutzt, schreibt Hersh. Stattdessen habe er sich in seinem Schlafzimmer versteckt, wo zwei Schützen mehrmals auf ihn feuerten.

Auf dem Flug zurück ins afghanische Jalalabad, zum provisorischen Stützpunkt der Navy Seals, habe man Teile seiner Leiche, eher eines Torsos, aus dem Helikopter geworfen. Dass er zur See bestattet wurde, der Leichnam von Matrosen des Kriegsschiffes "Carl Vinson" im Arabischen Meer versenkt, ist nach Hershs Lesart noch so eine Alice-im-Wunderland-Story. (Frank Herrmann aus Washington, 11.5.2015)