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"Gott würfelt nicht", hat Albert Einstein einmal gesagt. Auch nicht mit jenen, die der italienische Sammler Domenico Agostinelli hier eingerahmt hat.

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Vor einiger Zeit entdeckte ich über ein Buch von Elisa Klapheck die jüdische politische Denkerin Margarete Susman (1872–1966). Während ich in ihren Ausführungen zum Denken der Differenz viel Vertrautes fand, enthielten ihre Überlegungen zum "Gesetz" für mich völlig neue Aspekte. Hier ein erster Versuch, das zu verschriftlichen.

Ideengeschichtlich fühle ich mich Susman ziemlich nahe, wir sind beide Anarchistinnen, Feministinnen und religiös – eine Kombination, die ja nicht besonders oft vorkommt. Susmans Anliegen ist es, jüdische Philosophietraditionen für eine moderne und säkulare Welt fruchtbar zu machen, und es ist spannend, wie sie das mit dem Begriff des "Gesetzes" angeht.

Die Tora

Das "Gesetz" ist bei Susman natürlich nicht das "positive Recht", also die jeweils in einem Staat gültigen Gesetze, sondern es ist die Tora, das Gesetz Gottes, das dem jüdischen Volk offenbart wurde. Dieses Gesetz ist im Judentum nicht fix, sondern Gegenstand permanenter Diskussion und Auslegung, aber es ist verbindlich und unhintergehbar.

Die angeblich so starre und unbarmherzige "jüdische Gesetzestreue" ist ein christliches, antijüdisches Narrativ: dort die etwas dummen Juden, die am Sabbat nicht mal im Aufzug fahren, hier die vernünftigen Christen, die solchen Kleinkrämergeist hinter sich gelassen haben. Dieses Narrativ ist sehr wirkmächtig, damals wie heute, und auch Susman selbst, die in einer christlich dominierten Kultur aufwuchs, war von den entsprechenden Vorurteilen zunächst beeinflusst. Sie kannte sich gut in christlicher Ideengeschichte aus und überlegte sogar eine Zeitlang, zu konvertieren. Doch schließlich ließ sie sich nicht taufen, sondern entdeckte ganz im Gegenteil das jüdische Gesetz, die Tora, als eine kritische politische Ressource.

Korrektiv gegenüber den existierenden staatlichen Gesetzen

Susman neigte, wie gesagt, politisch dem Anarchismus zu, sie war eng befreundet mit Gustav Landauer, der sie nach der Revolte 1918 in die Münchener Räteregierung berufen wollte. Als Landauer ermordet wurde, endete die fruchtbare denkerische Beziehung der beiden leider. Ich frage mich aber, ob es nicht auch eine Beziehung zwischen Susman und Landauers Lebensgefährtin, der Dichterin Hedwig Lachmann, gegeben hat. Lachmann stammte aus einer orthodoxen jüdischen Familie und lehnte Assimilierungsideologien klar ab (sei es der weiblichen an die männliche oder der jüdischen an die christlich-nationale Kultur). Ich halte es für gut denkbar, dass Susman und Lachmann sich gegenseitig beeinflussten, aber das ist wohl noch zu erforschen.

Wie auch immer: Margarete Susman sah im Gesetz, also der Tora, ein Korrektiv gegenüber den real existierenden staatlichen Gesetzen. Genau diese Qualität, ein Korrektiv zu haben für die (potenziell menschenfeindlichen) Gesetze, die sich Staaten geben, war ihrer Ansicht nach der politische Gehalt der Tora für die Welt als Ganze, also nicht nur für die Jüdinnen und Juden: Mit dem "Gesetz Gottes" hält das Judentum einen Maßstab lebendig, an dem reale Entwicklungen in der Welt und positive Rechtssysteme gemessen werden können und müssen. Wobei eben, wie gesagt, der Inhalt dieses Maßstabs ständig diskutiert wird und werden muss. Worum es geht, ist, dass die Existenz eines solchen Maßstabs anerkannt wird.

Philosophischer Dauerbrenner

Für viele heutige Ohren klingt das angesichts von religiösem Fundamentalismus – von christlichen Homophobikern bis islamistischen Gotteskriegern – vermutlich problematisch. Susman schrieb aber in einer Zeit, als die Freiheit (zum Beispiel der Jüdinnen und Juden) durch staatliche Gesetze und säkulare Wissenschaft bedroht wurde, was schließlich zum Holocaust führte. Doch auch wenn man sie je nach Zeitumständen vielleicht mit unterschiedlichen Schwerpunkten beantworten mag, so ist die Frage eben doch grundsätzlich bedenkenswert und letztlich auch ein philosophischer Dauerbrenner: Können Menschen beschließen und tun, was sie wollen, oder liegt auch der "geistigen" Sphäre ein Gesetz zugrunde, ähnlich wie die Naturgesetze der materiellen Sphäre zugrundeliegen?

Interessant fand ich die Erläuterungen von Elisa Klapheck zum jüdischen Gesetzesdenken, die über Susman hinausgehen. Elisa Klapheck ist Rabbinerin der Frankfurter Jüdischen Gemeinde, und zwar in deren "egalitärem Minjan", einer liberalen und emanzipatorischen Gruppierung. Sie sympathisiert stark mit Susmans Versuch, politische, zeitgemäße Implikationen der jüdischen Kultur und Philosophie für die Welt insgesamt herauszufinden, und für mich (als nichtjüdischer Teil dieser "Welt") waren genau diese Aspekte auch die interessantesten. Klapheck sieht im "Gesetzesdenken" einen roten Faden, der jüdische Denkerinnen und Denker verbindet, und zwar unabhängig davon, ob sie sich selbst als religiös verstehen oder nicht.

Säkular, religiös, klerikal, theokratisch

Susman war der Auffassung, dass man die Welt nur verstehen kann, wenn man religiös und atheistisch zugleich ist. "Säkular", stellt Klapheck fest, ist nämlich nicht das Gegenteil von "religiös", sondern das Gegenteil von "klerikal/theokratisch". Atheistisch und religiös zugleich zu sein, bedeutet, nicht die Loyalität zu bestimmten religiösen Weltanschauungen, Dogmensystemen oder Institutionen wie Kirchen oder Synagogen zu pflegen, sondern loyal gegenüber jenem anderen "Gesetz" zu sein, dem man im Zweifelsfall mehr gehorcht als den Gesetzen der Staaten (oder des Marktes oder sonst etwas Innerweltlichem).

Schon als junge Frau hat sich Margarete Susman ausführlich mit Spinoza beschäftigt, der ja von vielen als Vordenker des Atheismus angesehen wird, sich selbst aber als gläubigen Juden verstand. Spinoza setzte Gott mit den universalen Naturgesetzen gleich: Gott ist das Gesetz, das niemand brechen kann. Susman schließt sich dem an, stellt aber die Frage, was mit jenen Aspekten der Welt ist, die nicht von Naturgesetzen geregelt werden, also zum Beispiel der Bereich der Politik. Sie ist der Meinung, auch hier gebe es ein "Gesetz", das – analog zum Naturgesetz – die Grenzen des Möglichen umreißt. So wie wir physikalisch nur innerhalb der Naturgesetze agieren können, so können wir es auch politisch nur innerhalb des Gesetzes tun. Einen Holocaust zu organisieren ist, beispielsweise, eindeutig "ungesetzlich".

Die Zwei-Reiche-Lehre

Faktisch ist ein Verstoß gegen das "politische Gesetz", anders als gegen ein Naturgesetz, aber dennoch möglich – der Holocaust wurde ja organisiert. Die Frage, um die es hier geht, ist kultureller, nicht wissenschaftlicher Natur: Wollen wir die menschliche Gesellschaft als eine denken, die unter einem unhintergehbaren "Gesetz" steht, oder wollen wir sie als eine denken, die für sich genommen gesetzlos ist, also nur jenen Gesetzen unterworfen, die sie selbst sich schafft beziehungsweise die von den Mächtigen und Herrschenden geschaffen werden?

Das Christentum ist in dieser Frage mindestens ambivalent, denn die Zwei-Reiche-Lehre (die ich hier kürzlich erst verteidigte) trennt ja klar zwischen dem göttlichen Gesetz und irdischen Verhältnissen. Das Judentum kennt – ebenso wie der Islam – eine solche Trennung zwischen Diesseits und Jenseits nicht. Das jüdische Denken besteht darauf, dass die Tora eine innerweltliche Angelegenheit ist. Elisa Klapheck verfolgt dieses jüdische Verständnis des Gesetzes durch die damalige Ideengeschichte und zeigt, dass es ganz unterschiedliche jüdische Denker und Denkerinnen verbindet, sowohl atheistische wie Bloch und Landauer als auch dezidiert religiöse wie Buber oder Rosenzweig. Gemeinsam ist ihnen der Versuch, das Prinzip der Gesetzlichkeit unabhängig von der "Synagoge", dem verfassten und hierarchischen Judentum, zu formulieren, also innerhalb der säkularen Gesellschaft. Das Gesetzesdenken wäre somit ein jüdischer Beitrag zu der Frage, aus welcher moralischen oder ethischen Position heraus Widerstand gegen das Böse zu leisten wäre (oder generell ethische Entscheidungen zu treffen wären). Er ist eine andere Antwort als etwa der Verweis auf den "freien Willen" oder auf eine inhaltsleere moralische Formel wie den Kant'schen kategorischen Imperativ.

Parallelen zu Simone Weil

Übrigens erkannte ich bei Susman auch viel vom Denken Simone Weils wieder, die – eine Generation später und vermutlich ohne Susman zu kennen – Ähnliches schrieb. Simone Weil war der Ansicht, dass weltlichen Verhältnissen eine Notwendigkeit innewohnt und dass es die (politische und spirituelle) Aufgabe von Menschen ist, sich zu bemühen, diese Notwendigkeit immer klarer erkennen, um entsprechend "das Richtige" zu tun. Simone Weil hatte eine orthodox-jüdische Großmutter, distanzierte sich selbst aber vehement von "Israel" und wurde Katholikin. Was sie inhaltlich sagt, ist aber dennoch ähnlich wie Susmans Ansatz. Auch Weil ist letztlich eine "Gesetzesdenkerin", sie geht davon aus, dass es ewig gültige Wahrheiten gibt, die nicht zur menschlichen Disposition stehen, identifiziert sie aber nicht mit der Tora, sondern eher zum Beispiel mit Platons "Ideen".

Auch den Anarchismus begründen Weil und Susman ähnlich: Weil staatliche Gesetze immer dazu dienen, Herrschaft von Menschen über andere Menschen zu stabilisieren und durchzusetzen, ist es ein Glück, zu wissen (oder darauf zu vertrauen), dass sie immer noch jenem "anderen Gesetz" unterworfen sind, das den irdischen Herrschaftsverhältnissen eine Grenze weist, und zwar unabhängig von den tatsächlichen Kräfteverhältnissen. Denn die sind ja oft aussichtslos: Simone Weil fängt an, über Gott nachzudenken, als klar wird, dass der Faschismus in Europa siegen wird und die Linken ihm keinen Einhalt gebieten können. Auch diese Frage ist nach wie vor aktuell: Ist das "Gute" oder das "Richtige" davon abhängig, ob die Guten stark genug sind, sich in der politischen Welt auch durchzusetzen? Oder bleibt das Gute gut, auch wenn das Böse faktisch gewinnt?

"Gott würfelt nicht"

Ich musste im Übrigen bei all dem auch an Albert Einsteins Diktum denken, dass "Gott nicht würfelt". Auch das verweist ja darauf, dass Gott mit dem Gesetz identisch ist. Dass Gott nicht "würfelt", bedeutet ja letztlich, dass Gott nicht handelt, also nicht aktiv eingreift – auch das eine Infragestellung christlicher Vorstellungen, die Gott eben als Handelnden konzipiert haben. Nach dieser jüdischen Interpretation ist Gott nicht derjenige, der Wunder tut und damit also Gesetze durchbricht, sondern im Gegenteil diejenige, die das Gesetz garantiert.

Das erinnerte mich wiederum an eine andere jüdische Denkerin, nämlich Etty Hillesum, die sagte, dass nicht Gott uns hilft, sondern dass wir ihr helfen müssen.

Soweit erstmal meine unvollständigen Gedanken. Definitely to be continued. (Antje Schrupp, 19.5.2015)