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"Jetzt kann Österreich zeigen, dass es ein modernes, offenes Land ist", sagt Dean Vuletić.

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Wien könne sich nun von seiner toleranten Seite zeigen, sagt der Historiker Dean Vuletić, der im Rahmen eines Marie-Curie-Stipendiums an der Universität Wien über den Song Contest forscht: "Die toleranten Leute in Österreich gibt es. Bisher hat man die auf der Welt nicht gesehen." Warum Österreich bei der Gleichstellung von homosexuellen Paaren aber noch Aufholbedarf hat und weshalb sich bei manchen Ländern auch eine europäische Sinnkrise einstellt, sagt er im Interview mit Rosa Winkler-Hermaden.

STANDARD: Die Semifinale haben stattgefunden. Wie schlägt sich Wien als Austragungsort des Song Contests?

Vuletić: Ich beobachte, dass in Wien alle sehr enthusiastisch sind. Der ORF hat viele Veranstaltungen zum politischen Hintergrund des Song Contests organisiert. Das hat in dem Ausmaß keine andere Fernsehstation gemacht. Es gibt das Bewusstsein, dass der Song Contest nicht nur ein Wettbewerb für Musiker ist, sondern auch für politische und soziale Botschaften steht.

STANDARD: Der Song Contest ist nur eines von vielen Events, die im Mai in Wien stattfinden: Vergangene Woche war der Life Ball, derzeit laufen die Wiener Festwochen. Was tut das mit der Stadt, wenn so viele Feste stattfinden? Verändert sich das Image?

Vuletić: Im Mai ist in Wien immer viel los. Life Ball und Wiener Festwochen sind sicherlich wichtige Veranstaltungen. Für mich als Historiker stehen die vielen historischen Jubiläen in diesem Monat im Vordergrund. Wir feiern 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und 60 Jahre Staatsvertrag. Der Song Contest symbolisiert auch die internationalen Beziehungen. Er gibt Österreich die Möglichkeit, sich als ein modernes Land zu präsentieren, das seine Geschichte und auch die problematischen Aspekte versteht. Es geht darum, zu begreifen, was Frieden und offene Grenzen bringen.

Natürlich haben wir noch viele Probleme in Europa, es gibt einen Krieg in der Ukraine. Aber wir haben auch viele gute Dinge erreicht, besonders in Österreich. Man lebt sehr gut in Österreich, die Gesellschaft ist tolerant, auch wenn es politische Parteien gibt, die Migration kritisieren. Aber am Ende ist Österreich eine erfolgreiche, multikulturelle Gesellschaft. Das muss Österreich der Welt zeigen. Leider gab es nicht immer ein gutes Image in der Welt. Etwa zu Zeiten der Waldheim-Affäre oder als Jörg Haider im Jahr 2000 die FPÖ in die Regierung führte. Jetzt kann Österreich zeigen, dass es ein modernes, offenes Land ist.

STANDARD: Der Song Contest ist dennoch ein Unterhaltungsevent. Kommt die Botschaft, die hinter dem Song Contest steht, bei den Menschen in Österreich an?

Vuletić: Ein Teil ist sicher für diese Botschaften empfänglich, andere weniger. Man kann sehen, wie jemand politisch tickt, indem man hört, wie er oder sie über Conchita Wurst spricht. Der Sieg von Conchita hat nicht so viel verändert bei der rechtlichen Gleichstellung Homosexueller, aber er hat das Image Österreichs in der Welt verändert. In Österreich gibt es noch immer keine Homo-Ehe, auch wenn sofort nach dem Sieg Conchitas die Politiker gesagt haben, wir machen das jetzt. Österreich kann und muss mehr in dieser Sache machen.

STANDARD: Viereinhalb Monate nach dem Song Contest wird die Wien-Wahl stattfinden. Die FPÖ wird wieder mehr als 20 Prozent einfahren. Tun wir toleranter, als wir sind?

Vuletić: Ja, sicher. Aber die toleranten Leute in Österreich gibt es. Bisher hat man die auf der Welt nicht gesehen. Es wurde in erster Linie über die rechten Tendenzen berichtet. Aber Österreich hat eine andere Seite, besonders Wien. Man muss auch diese Seite sehen.

STANDARD: Ist an anderen Austragungsorten das Thema Toleranz auch so im Vordergrund gestanden?

Vuletić: In Malmö gab es 2013 das Motto "We are one". Nach dem Song Contest gab es jedoch Demonstrationen der Immigranten. Das war schlimm für Schweden, man sah, sie sind nicht eins. Diese Proteste waren auch gewalttätig. Man hat gesehen, dass es dort auch Probleme mit Toleranz et cetera gibt.

STANDARD: Auffällig ist beim Song Contest in Wien, dass die Türkei, Bosnien, Kroatien oder auch die Slowakei nicht teilnehmen. Diese Länder haben viele Migranten hier in Österreich.

Vuletić: Die Türkei kritisiert das Voting-System. Es gibt die fünf großen Länder Italien, Frankreich, Deutschland, Großbritannien und Spanien, die direkt ins Finale kommen. Die Türkei sagt: Wir haben mehr Einwohner als die meisten anderen, nur Deutschland ist größer. Warum sind wir nicht direkt im Finale? Darum kommen sie seit 2012 nicht mehr. Kroatien sagt, dass es nicht genug Geld habe. Ich glaube, das ist nicht das Problem. Es ist etwas anderes: Vor allem nach dem EU-Beitritt hat das Land das Interesse an vielen dieser internationalen Wettbewerbe verloren. Kroatien nimmt auch nicht an der Expo teil. Früher hat man dafür gekämpft, zu Europa zu gehören. Jetzt hat man es erreicht. Die Menschen in Kroatien suchen einen Platz in Europa und eine Identität, es ist nicht einfach für das Land.

Bosnien hingegen hat wirklich kein Geld. Und die Slowakei hat keinen Erfolg beim Song Contest. Sie sagen, dass er keine Priorität habe. Das ist sehr schade. Wir haben nicht genug unternommen, die Länder von der Teilnahme zu überzeugen. Alle sprechen über Australien. Aber die Nachbarländer sind für die Migranten in Österreich doch eigentlich viel wichtiger. Niemand spricht darüber, warum sie nicht dabei sind.

STANDARD: Viele sind stolz, dass Australien teilnimmt. Woran liegt das?

Vuletić: Für Großbritannien ist Australien gedanklich viel näher als etwa die Slowakei. Hier stellt sich die Frage: Was ist Europa? Das Motto des Song Contests ist "Building Bridges". Am einfachsten wäre es, eine Brücke zwischen Wien und Bratislava zu bauen. Aber diese Brücke fehlt.

STANDARD: Wer hätte sich dafür einsetzen sollen?

Vuletić: Der Veranstalter und die EBU (Europäische Rundfunkunion, Anm.). Natürlich haben alle Länder die Einladung bekommen, alle können zu- oder absagen. Aber es wurde viel unternommen, um Australien heuer dabeizuhaben. Warum wurde nicht auch etwas unternommen, um die anderen Länder zu unterstützen? Für die Wiener Migranten wäre es schön gewesen, wenn sie mit ihren Heimatländern mitfiebern hätten können. (Rosa Winkler-Hermaden, 22.5.2015)