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Visionen europäischer Sangeskunst: Im Dreischichtbetrieb wurde die schon jetzt weltberühmte Bühne mit ihren 1285 Stahlrohren herangeschleppt.

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Under Construction oder bald alles Wurst? Der Friseur um die Ecke versucht während des Song Contest die Marktwirtschaft neu zu erfinden.

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Ich wohne seit bald zwanzig Jahren im 15. Wiener Gemeindebezirk, außerhalb der gentrifizierten Welt der Innenstadtbezirke. Hier sind Menschen aus 121 Nationen gemeldet, was zum jahrzehntelang schlechten Ruf von Rudolfsheim-Fünfhaus als Problembezirk beigetragen haben mag. Die Sehenswürdigkeiten in der Gegend heißen Lugner-City, Westbahnhof und Wiener Stadthalle, die meinem Haus direkt gegenüberliegt. Wenn Hansi Hinterseer dort auftritt, füllt sich der benachbarte Pub mit blonden, gut gebräunten Menschen, die Fransenlederjacken tragen.

Die Autos, die dann versuchen, im Grätzel einen Parkplatz zu finden, kommen aus den Bezirken MI, BA oder KU. Treten Motörhead auf, donnern Harleys durch die Gegend, während sich sonntagnachmittags Reisebusse aus der Provinz einparken, sobald Holiday on Ice dort gastiert. Der European Song Contest ESC aber, der in diesem Jahr hier ausgerichtet wird, soll natürlich alles in den Schatten stellen.

Eines Morgens vor sechs Wochen war über die Straße, die hier Vogelweidplatz heißt, eine Art Brücke gewachsen, gemäß dem ESC-Motto "Building Bridges". Und auf dem Parkplatz der Kirche am Burjanplatz standen nun Teile der Technik des ORF. Pfarrer Martin Rupprecht, der auch schon mal auf einem Pferd zum Martinsfest einreitet und also weiß, was eine große Show ist, vermietet seine Fläche gerne an den Song-Contest-Host, kann er doch mit den Einnahmen Teile der Kosten für eine syrische Flüchtlingsfamilie finanzieren, für die er gerade eine Wohnung angemietet hat. Dass ihm die Veranstaltung mehr Leute in die Kirche spülen wird, daran glaubt Pfarrer Martin bei unserem Gespräch nicht.

Um ein paar Punkte beten

Aber offen lässt er sie nun doch länger, falls jemand um ein paar Punkte mehr beten möchte oder darum, dass die heimischen Makemakes heuer nicht gewinnen mögen, weil man sich das alles nächstes Jahr ersparen will. Dann muss wieder der Kardinal genügen, der neulich zur Firmung hier in der Kirche war und dabei aussah wie ein sehr schräger Song-Contest-Teilnehmer.

Über die Gestängebrücke führten nun Kilometer an Kabeln hinüber zum Parkplatz der Eishalle, wo der ORF sein Containerdorf errichtete und um dieses herum seine Ü-Wagen aufstellte. Leute in gelben, orangen und auch blauen Warnwesten waren hier nun öfter zu sehen als Anrainer mit ihren Hunden, sie trugen Helme in den Farben Weiß, Schwarz, Rot oder Gelb. Die stark befahrene Durchzugsstraße wurde bald durch ein Absperrgitter in zwei Hälften geteilt, an der Zufahrt stand Tag und Nacht ein Security-Mitarbeiter, ausgerüstet mit Kelle und Walkie-Talkie, und regelte zusätzlich zur Ampel den Verkehr. Wer nachts die Fenster offen stehen ließ, der wachte am Morgen durch den Sprech aus den knarrenden Walkie-Talkies auf. Für den Fall, dass man trotzdem noch ein wenig dösen wollte, errichteten sie vor meinen Fenstern ein paar Stapel mit Absperrgittern und Verkehrszeichen, von denen ständig welche abgeholt und wieder draufgeschmissen wurden. Wer es ruhig haben wollte, der musste ab jetzt zu Pfarrer Martin hinüber in die Kirche.

An der Ostseite der Halle, bei ihrem Haupteingang drüben am Märzpark, stand nun der Scanner des Flughafens Wien. Alles Material, das in die Halle hinein sollte, musste da durch, und Sprengstoffhund Dax, der wie der Deutsche Aktienleitindex heißt, schnüffelte noch zusätzlich daran herum, bevor die Kisten ihren Stempel kriegten. 300 Lkws wurden auf diese Weise abgefertigt, Arbeiter in schwarzen T-Shirts und kurzen schwarzen Hosen prägten das Straßenbild, einige von ihnen waren Holländer. Sie schleppten im Dreischichtbetrieb die schon jetzt weltberühmte Bühne mit ihren 1285 Stahlrohren heran und wohnten nach der Arbeit im Parkhotel Schönbrunn, wo es hoffentlich genug Käse gab.

Stephen, cooler Zuwanderersohn aus Kenia, und seine beiden Kumpels, die gemeinsam ein Gymnasium in der Gegend besuchen, lungern auf der Stiege herum, die zum Vogelweidpark hinaufführt, nördlich der Stadthalle gelegen. Der Song Contest und all das Drumherum geht ihnen herzhaft am Arsch vorbei, genauso wie "die Lugner" gleich nebenan, wo andere ihrer Kumpels gerade eine "Shisha ziehen". Sie hören in ihrem Leben lieber amerikanischen Hip-Hop, rauchen ein bisschen und sehen dabei gut aus.

Härtere Drogen aller Art gibt es natürlich auch in der Gegend, davon weiß Fathi zu erzählen, der bei der eingeschlagenen Scheibe am Abgang zur Stadthallengarage lehnt. Er ist 16 Jahre alt und Tischlerlehrling aus Ottakring drüben. Der sehr sympathische Bezirksvorsteher Zatlokal erklärt allerdings in unserem Gespräch, dass sich das Problem weitgehend in den benachbarten 16. und hinüber in den 20. Bezirk verlagert hätte. Schadenfreude zeigt er dabei keine.

Anders als so mancher Bonze seiner Partei, der sich hier die Dachwohnung im Genossenschaftsbau unter den Nagel gerissen hat, kennt er sich an der Basis aus. Er schätzt gerade die bunte Mischung und soziale Vielfalt seiner Bewohner, die sich während der Song-Contest-Feierlichkeiten beim Public Viewing am Reithofferplatz zeigen wird. Sollte es dabei unerwartet Brösel geben wegen zu vieler Punkte für die Kroaten oder zu weniger für die Türken, dann liegt das Kommissariat Tannengasse gleich um die Ecke, das früher eines der gefürchtetsten in Wien war. Dort gab es oft Dresche für die Gestrandeten rund um den Westbahnhof.

Abstrakte Gefährdungslage

Den ESC aber betreuen Spezialisten des Ministeriums, und einer davon heißt Dr. Hetzmannseder. Die Veranstalter des Akademikerballs werden jetzt vielleicht ein wenig eingeschnappt sein, dass er ihre Tanzerei nicht mit dem Song Contest verglichen haben möchte, jedenfalls was Umfang und Art der polizeilichen Tätigkeit betrifft. Er beschreibt den Einsatz als "international", und routinemäßig geht man von einer "abstrakten Gefährdungslage" aus. Konkrete Hinweise dafür gibt es allerdings nicht, und daran wird sich seiner Meinung nach auch nichts ändern. Man erwartet nämlich "familiäres Publikum bei einem kulturellen Ereignis". Offene und tolerante Menschen, anders als bei einem Gabalier-Konzert.

Als man mich in die Halle lässt, blüht endlich der Flieder, und es sind noch vier Wochen bis zum Finale. Ich muss eine gelbe Warnweste und einen weißen Schutzhelm tragen, während Sicherheitschef Norbert Welzl meinen Rundgang mit cooler Routine betreut. Für den ORF ist der Song Contest "Standard", sagt er, die Anstalt überträgt immerhin auch die Streif und den Silvesterstadl.

In der Halle wird gearbeitet und vorbereitet, als würde bald die Tochter eines russischen Oligarchen Geburtstag feiern, zusammen mit den engsten 8000 Freundinnen im 400 Millionen Euro teuren Gartenhäuschen. Mithilfe von Lichtdoubles wird die Party eingeleuchtet, ein paar Dutzend Mikros werden ausgerichtet. Welzl erklärt die Bühne, auf die alle zu Recht stolz sind, und führt dann in den Bereich der ganz hinten sowie seitlich im Juchee der Halle untergebrachten Reporterkabinen.

Kamerachef Thomas Pinter ist Herr über die insgesamt 26 Stück Kameras, davon drei mit einer 95-fach-Optik und 860 mm Brennweite, das sind fast schon Teleskope. Vor der Bühne soll sich eine extrem schnelle Kamera im Halbkreis bewegen und inmitten der hoffentlich tobenden Fans für "Dynamik" bei der Übertragung sorgen. Falls die Kameraleute, die nur über Hängeleitern ihre schwindelerregend hohen Arbeitsplätze unter dem Dach erreichen, nicht herunterfallen, wird das auch gelingen. Der erfahrene Mann an den Pyrotechnikschaltern kommt aus Deutschland und brennt schon auf seinen Einsatz, bildlich gesprochen. Die Fluchtwege führen hinaus zum Vogelweidpark.

Backstage wurde bereits alles Equipment der einzelnen Acts angeliefert, Dutzende, vielleicht sogar hunderte Gitarren, Drum-Sets in Türkis sowie ein Haufen alter Koffer, der irgendeinem Land als Bühnendeko dienen wird, stehen herum. Die schwarz gekleideten Roadies, allesamt Routiniers ihres Faches und mehrheitlich langhaarig, lümmeln an Verstärker gelehnt und denken an AC/DC. Sie sind völlig desinteressiert am Besucher und fertigen seine Fragen mit überlegenem Achselzucken ab. Wegen ihrer schönen Haare tragen sie hier als einzige keine Helme.

Auftritt Stuart Barlow. Er ist seit fünf Jahren die ESC-Schnittstelle zwischen den teilnehmenden Acts und der Eurovision als Ausrichter. Wenn jemand beispielsweise in Armenien die Ausscheidung gewonnen hat, dann muss sein Auftritt ja noch nicht eurovisionstauglich sein. Barlow berät die Künstler und gibt Wünsche der Regie, des Lichts oder der Tontechnik an sie weiter, damit am großen Tag wirklich nichts schiefgeht: Lieber das behaarte Muttermal links im Gesicht nicht zu oft heranzoomen! Und den Rock vielleicht ein bisschen länger tragen, wenn das Knie gerade lädiert ist! Solche Sachen halt.

Rauch für zehn Papstwahlen

Er macht das seit fünf Contests und ist immer noch bewundernswert guter Laune, ebenso wie Claudio Portoli, der mir beim Ausgang noch die Idee des ESC als Green Event erklärt. Jeder, der eine Akkreditierung um den Hals trägt, trägt damit auch einen Fahrschein herum und nützt ihn hoffentlich auch. Insgesamt, bestätigt er, gibt es ein sehr gutes Einvernehmen mit uns Nachbarn, mit dem Bezirk, der Stadt, der Polizei und sogar mit dem Trafikanten, der aus seinem Kabuff ausziehen und in einen Container auf den Gründen der Pfarre ausweichen musste.

Selbst das erstmalige Hochfahren des Notstromaggregats funktioniert tadellos, immerhin wird der ESC die Leistung eines großen Windrads verschlingen, und falls es ausfällt, stehen die drei Motoren bereit. Als sie starten, steigt Rauch für zehn Papstwahlen auf, aber die mitgebrachten Kinder, denen man mal etwas bieten wollte, schauen einen an, als hätte man noch nie etwas von Subway Surfers gehört, ihrem gerade bevorzugten Smartphone-Spiel. "Papa: Zero points!"

Beim japanischen Kirschblütenfest am Kriemhildplatz, dem Zentrum des Grätzels mit Kirche, Kindergarten und Buchhandlung, trifft sich das ausgelassene Fünfhaus zum Picknick. Der Quadratmeter Eigentum kostet auch hier schon besorgniserregende 4100 Euro, aber trotz der nahenden Gentrifizierer hat man schon lange nicht mehr so gelacht. Mit grundsolider Fröhlichkeit versucht man während des Festes den Geheimnissen der Nibelungen auf den Grund zu gehen, die dem Viertel immerhin seinen Namen gaben: "Mit Brünhild musste, mit Kriemhild wollte Siegfried? Umgekehrt?"

Jedenfalls wollen dann alle ins benachbarte Kulturcafé Kriemhild, wo alle zwei Wochen Karaoke auf dem Programm steht, von keiner Eurovision je übertragen, und das zu Unrecht. Auftritt "Andrea von der Bar", die heute Abend "Zippe" heißen möchte, sie singt Willie Nelsons You are always on my mind und legt später mit dem unvermeidlichen, das ganze Nibelungenviertel erschütternden Que sera noch eines drauf. Andi, rotes Hemd, schwarze Jeans, Pferdeschwanz bis zum Gürtel und mit einer Stimme ausgerüstet, die ein paar Stockwerke tiefer angesiedelt ist als die von Henry Kissinger, wenn er verkühlt ist, singt natürlich Johnny Cash. Und Claudia, die nächsten Tag nach Südfrankreisch aufbreschen wird, chansonisiert Champs-Élysées. Alle: 12 points mindestens. Und nach dieser Nacht gibt's den Quadratmeter wieder etwas billiger.

Beim Frühstück nächsten Morgen im Café Weidinger neben der Lugner-City, 200 Meter von der Stadthalle entfernt, spürt der Kellner nichts von der frischen Brise, die der ESC bringen sollte. Es ist halb neun Uhr, die Sonne scheint durch die ockergelben Vorhänge auf die hellblauen Sitzbezüge, und wir sind alleine. "Song Contest?", lacht er, als ich ihn danach frage. "Glaubst du wirklich, da kommt einer zu uns?"

Anruf Richard Lugner, ebenfalls Anrainer und so etwas wie der Pausenclown der Gegend, aber auch Besitzer der gleichnamigen City sowie der Stadthallengarage. "Der Gewinner des Song Contest heißt Lugner", schrieb schon vor Wochen seine Leibpostille, und tatsächlich: "4,5 Prozent Umsatzplus", berichtet er, nachdem es die letzten beiden Jahren "wegen dem Online" nicht so gut gelaufen war. Nun hat der ORF allein ein Viertel seiner Garagenplätze angemietet, am großen Abend selbst verzichtet er aber auf das VIP-Package drüben in der Stadthalle und regelt lieber den Verkehr in seiner eigenen Garage. Die Gattin? "Am gscheitesten wird sein, wenn sie heimfährt, dann haben wir einen Parkplatz mehr." Alter Brückenbauer.

Feststehende Verlierer

Herr Natanow, 1-€-Diskont-Ladenbesitzer an der Hütteldorfer Straße und Händler aus Leidenschaft, hat sich für einen der Verkaufsstände in der Stadthalle während der Chose interessiert, aber "17.000 Euro für 22 Tage ist zu viel". Um ein paar Hunderter hat er sich stattdessen mit Mozartmagneten und Gamshutschnapsgläsern eingedeckt, nun wird er seiner Preispolitik untreu und verkauft je drei Stück davon um einen Zehner. Mal schauen, ob die Balten und Südeuropäer anbeißen.

Der Friseur um die Ecke seinerseits versucht, während des Song Contest die Marktwirtschaft neu zu erfinden: Weil er so viele Leute erwartet, will er die Preise von zwölf auf zehn Euro senken, damit er bloß nicht zu viel verdient.

Es gibt aber nicht nur absehbare, sondern auch schon feststehende Verlierer. Im Pub "By Charles", das wirklich so heißt und in der prognostizierten Einfallschneise für die täglich bis zu dreimal 8000 Zuschauer am Beginn der Hütteldorfer Straße liegt, müssen sie während der Veranstaltung den Gastgarten wegräumen. "Sauerei!" und Zero points für den zuständigen Magistrat!

Auch im Café Märzpark gegenüber der Dive-Lounge, das den Gästen zwei braune Plastiktische mit je vier Sesseln anbietet, tut sich nichts. Die Arbeiter haben für den Abend das Pub mit Burger und Fußball gleich nebenan als Basislager für sich entdeckt, während sie mittags ins Gasthaus Mader, gelegen an der Hundsbröckerlgasse, essen gehen und sich über die Kellnerin freuen: "Do schau her, die Claudschi! Heit hot sie sogar a Rockerl an für mi!"

Den Schinkenkäsetoast gibt es hier auch paniert.

Nächste Woche ist das alles hier Geschichte, und wir haben wieder unseren Fahrradständer. (Manfred Rebhandl, Album, 23.5.2015)