Der Autoreifenfaktor: Vor der Krise konnten die Kunden von Themis Zanias ihre Reifen gar nicht schnell genug wechseln, jetzt kaufen sie allenfalls gebrauchte.

Foto: Markus Bernath

Eigentlich sieht alles so normal aus. Die bunten Doppeldeckerbusse mit den Hop-on-Touristen aus Japan und Deutschland fahren durch die Straßen. Die Athener stehen morgens und frühabends im Berufsverkehr. Es muss also noch Arbeit und Büros geben. Jede Stunde marschieren die Gardesoldaten zwischen Parlament und Präsidentenpalast mit aufgepflanztem Bajonett und unter zurechtgestutzten Orangenbäumen, mag kommen, was will. Und hat man sich erst an die leeren Schaufenster in den Straßen gewöhnt, an die mit dem Schriftaufzug "Zu vermieten" und den bunt wuchernden Konzert- und Theaterankündigungen, dann ist die Krise weg und nur etwas, über das in Fernsehen und Zeitungen geplappert wird.

Denn die Griechen sind noch da. Wenn Olympiakos punktet, jubelt ein ganzes Haus aus offenen Wohnzimmerfenstern. Irgendjemand hat immer Geld, um nachts ein kleines Feuerwerk in den Himmel über der Stadt zu schießen. Es gibt Strom, die Akropolis ist erleuchtet von abends um neun bis morgens um sechs. Dabei ist Griechenland wahrscheinlich so pleite wie nie zuvor.

Städte und Gemeinden haben ihre Geldreserven an die Zentralregierung abgeben müssen. Die letzten Euros werden zusammengekratzt, um Gehälter, Pensionen und die Energieimporte zu zahlen. In einem neuen Akt der Verzweiflung hat das Außenministerium die griechischen Botschaften und Konsulate in der Welt angewiesen, ihre Einnahmen aus Visagebühren und sonstiges Bargeld für repräsentative Ausgaben sofort nach Athen zu schicken.

Kein Geld mehr

Seit August 2014 hat das Land keine Rate mehr von den Kreditgebern bekommen, lange vor den Wahlen im Jänner und dem Machtwechsel zu Syriza, der "Koalition der radikalen Linke". Seit Sommer schon sträubt sich das Land gegen die anstehende Überprüfung seiner Budgetpolitik und der Erfüllung der Kreditbedingungen. Die Prozedur endet in immer neuen Sparauflagen durch die Gläubiger. Fünf Jahre lang ging das so. Die Linke, die erstmals in Athen regiert, legt sich quer. Die Umfragen führt sie weiter mit großen Vorsprung an, auch wenn die Finanzlage immer prekärer ist. Doch die Griechen halten zu Alexis Tsipras, dem jüngsten Regierungschef in 100 Jahren. "Sie haben wieder Selbstbewusstsein bekommen. Das war wichtig", sagt ein ausländischer Anwalt, der in Athen arbeitet, ein deutscher übrigens.

Der kämpferische Geist der Griechen ist überall zu Hause, an der Vouliagmenis-Allee zum Beispiel, einer sechsspurigen Schnellstraße, die vom Athener Zentrum in den Süden zu den Strände und schicken Vororten reicht. Ein paar Filialen großer Handelsketten stehen entlang der Allee, Tankstellen und Werkstätten, aber vor allem die Geschäfte des gebeutelten Mittelstands. Themis Zanias hat dort einen großen Laden für Autozubehör - Alufelgen und extra Stoßdämpfer zum Tieferlegen. Seit 40 Jahren gibt es das Geschäft der Zanias, Themis hat es von seinem Vater übernommen und schleppt es nun durch die Krise. Der Laden ist gut besucht, nur gekauft wird wenig. 80 Prozent minus, sagt Themis, seit zwei Jahren macht er keinen Gewinn mehr und deckt nur Kosten. Die Reifen, die Themis verkauft, sind so etwas wie der Gradmesser der griechischen Gesellschaft. Reifen halten im Allgemeinen vier Jahre, sagt der Mechaniker. "Vor der Krise sind die Leute schon alle drei Jahre gekommen und wollten unbedingt neue Reifen. Jetzt wechseln sie gar nicht mehr, oder sie kaufen gebrauchte. Jeder will einfach überleben."

Geld abgezogen

Rund 36 Milliarden Euro haben die Griechen seit November 2014 aus Furcht vor einem Ende des Euro im Land von ihren Bankkonten abgezogen und im Ausland angelegt oder zum Teil auch zu Hause gebunkert. Das hat die Liquiditätskrise der Banken und der Wirtschaft noch erheblich verschärft. Geschäftsleute wie Themis Zanias können keine Kredite mehr aufnehmen, um kurzfristig Waren zu importieren. Seine Felgen aus dem Ausland verkauft Themis nur noch auf Bestellung und gegen Vorkasse. Ans Aufgeben denkt der 39-Jährige nicht. "Wir hoffen alle, dass dieses Kreditabkommen nun abgeschlossen wird, damit der Markt wieder in die Gänge kommt. Und dann soll uns Gott helfen."

Der 5. Juni aber könnte der Tag sein, an dem alles in die Brüche geht. Dann muss Griechenland ein weiteres Mal Zinsen an den Internationalen Währungsfonds zahlen: 300 Millionen Euro, völlig illusorisch unter den gegebenen Umständen, wie Nikos Filis, der Fraktionssprecher von Syriza im Parlament, einräumt. Kann Griechenland seine Schulden nicht begleichen, gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder der IWF lässt Athen mehr Zeit zur Rückzahlung, und die Europäische Zentralbank schließt die Augen und genehmigt weiter ELAs, die Notfallkredite für die griechischen Banken. Oder aber der Währungsfonds besteht auf der Zinstilgung, und die EZB dreht den Hahn zu - dann ist Griechenland zahlungsunfähig.

Ein paar Häuser weiter vom Autozubehörladen an der Vouliagmenis-Allee, vorbei an leerstehenden Büros und aufgegebenen Geschäften, versucht nun Ilias Sgouras sein Glück. "Ich schaue keine Nachrichten an und lese keine Zeitung mehr", sagt er, "was geschieht, das geschieht eben. Und wenn eine Situation da ist, stelle ich mich darauf ein." Sgouras vermietet einen Saal für Hochzeitsfeiern. 200 Sessel mit blauen Samt und goldfarbener Lehne, die Tische sind schon weiß gedeckt, nur die Leuchten an der Decke fehlen noch.

Die Psyche wackelt

Für die Wirtschaftskrise hat er keine Zeit. "Ich muss gut drauf sein, das beeinflusst meine Arbeit", sagt der Geschäftsmann. Seine Kunden sind es häufig nicht. Psychisch instabil seien die Leute geworden, machen einen Termin aus, kommen dann nicht. Dabei ist eine Hochzeitsfeier keine Kleinigkeit. Mai und Juni im Frühjahr, September und Oktober im Herbst sind normalerweise die starken Monate, sagt Sgouras. Er macht das nicht zum ersten Mal. Seinen vorherigen Hochzeitssalon, näher zur Stadtmitte, hat er wegen der hohen Miete aufgeben müssen. "Für kleine Unternehmer wie uns gibt es keine Gnade", sagt der Grieche. "Kredit gibt es nirgends. Man muss auf den eigenen Beinen stehen."

Griechenland ist schon wieder in die Rezession gerutscht. Nach zwei Quartalen mit einem kleinen Minus scheint das Land gefangen im alten Stillstand. Die fruchtlosen monatelangen Verhandlungen zwischen der Regierung und ihren Gläubigern haben das Wirtschaftsklima vergiftet. Finanzminister Yanis Varoufakis gibt das auch zu. Doch die Unnachgiebigkeit der Regierung, die keine Sparmaßnahmen mehr akzeptieren will, die sie als kontraproduktiv ansieht, sei eine Investition in die Zukunft, erklärte Varoufakis jüngst einer Reporterin der New York Times . Und doch scheint der Finanzminister schon bereit zum Absprung. Wenn er die Einigung mit den Kreditgebern nicht mittragen könne, werde er gehen, signalisiert er.

Zähe Unterhändler

Noch ist es nicht so weit, und noch ist nicht entschieden, ob die linksgeführte Regierung von Alexis Tsipras in Brüssel nicht doch Zugeständnisse, wenn nicht vom IWF, dann von den anderen Eurofinanzministern herausreißen und vor allem weitere Pensionskürzungen verhindern kann. Die Griechen sind zäh, so stellen die Unterhändler der Gläubiger fest. Die Gründe für das Weiterwursteln vor allem der größeren Unternehmer im Land sind da mitunter prosaischer: Das griechische Insolvenzrecht ist geduldig, heißt es. Firmenpleiten und die Entscheidung für Massenentlassungen ziehen sich hin. Die Banken wiederum sitzen auf Firmenkrediten, die zwar nicht mehr bedient werden, aber deren Abschreibung ihnen zu riskant ist.

Die kleinen Geschäftsleute an der Vouliagmenis-Allee kennen diese Seite der griechischen Normalität nicht wirklich. Efstathios Kelesidis zum Beispiel sitzt inmitten von Aluminiumfenstern und -türen. Die baut er ein, Anruf genügt. Sein Telefon klingelt auch unaufhörlich. "Beim Wohnungsbau tut sich nichts, 70 Prozent runter", sagt er, "aber bei mir, bei den Renovierungen, bewegt sich etwas." Vor vier Monaten erst hat er sich selbstständig gemacht - ohne Kredite, mitten in der Krise und mit 49 Jahren. (Markus Bernath, 23.5.2015)