Groß wie eine Zeitung zeigt die Publikation "Taksim Calling" von Frederic Lezmi Vergrößerungen von Postkarten mit alten Ansichten des Taksim-Platzes in Istanbul.

Foto: Frederic Lezmi

Auf der Rückseite hat Lezmi persönliche "Grüße" verfasst - in Form von Fotos, die er vor Ort von den Demonstrationen gemacht hat.

Foto: Frederic Lezmi

Einen Eindruck von den Schrecken des Krieges können Fotos besser, direkter und unmittelbarer vermitteln als jede schriftliche Schilderung. Zum Beispiel der kühle Blick auf die Narben des Krieges bei Sophie Ristelhueber ...

Foto: Sophie Ristelhueber

... oder Josef Koudelkas Bilder über die sowjetische Invasion in Prag 1968.

Foto: Josef Koudelka

Können Fotografien der Komplexität von Konflikten und Kriegen gerecht werden? Können sich Betrachter solcher Bilder in geopolitische Krisen eindenken? Oder welche Möglichkeiten, aber auch welche Einschränkungen hat die Fotografie bei der Bewältigung von Gewalt? Das sind hochaktuelle Fragestellungen. Zum einen, weil die Fotografie längst zum Leitmedium unserer Zeit geworden ist, zum anderen, weil wir weltweit so viele Konflikte und Kriege wie selten zuvor haben.

Das Fotografiefestival Photomonth in Krakau geht genau diesen Fragen nach, wobei die Kraft des journalistischen Einzelbildes oder der sogenannten Schockfotos gar nicht erst behandelt wird: Selbst aus Sophie Ristelhuebers Serie Every One, in der sie Narben auf den Körpern von Kriegsopfern zeigt, sind gleich zwei ähnliche Fotografien als Außenrauminstallation an einer Häuserwand ausgewählt worden. Man geht scheinbar davon aus, dass für komplexe Zusammenhänge Bildstrecken genutzt werden müssen. Und die finden immer öfter in Fotobüchern und weniger in Magazinen oder Zeitungen ein Zuhause.

Eines wird beim Besuch des Festivals trotzdem schnell deutlich: Das Medium Fotografie allein reicht nicht aus, um komplexe Zustände zu erklären. Wir benötigen, um ein Bild "korrekt" mit Inhalt zu füllen, immer einen Hinweis, der unseren Gedanken eine Richtung gibt. Haben wir diesen nicht, sind unsere Interpretationen so frei wie eine Feder im Wind - unsichtbar getragen von unseren persönlichen Erfahrungen. Vereinfacht gesagt: Wir sehen nur, was wir wissen.

Bereits in den 1970er-Jahren haben sich die beiden US-Künstler Larry Sultan und Mike Mandel kritisch mit dem Umgang von Wahrnehmung, Wirklichkeit und dem falschen Anspruch, dass Fotografie Dokumentation sei, beschäftigt. Für ihr wohl wichtigstes Werk Evidence hatten sie 59 Fotos aus unterschiedlichsten Archiven ausgewählt und sie gemeinsam präsentiert. Der Betrachter erfährt nichts über den Hintergrund der Bilder - und rätselt. Das ist erstaunlich, denn ursprünglich war jedes Bild angefertigt worden, um etwas ganz Bestimmtes zu beweisen. Aus dem ursprünglichen Kontext gerissen lösen sie jedoch keine Rätsel, sondern geben uns vielmehr welche auf.

Das Buch Esto ha sido von Luis Weinstein, zu sehen in der von Markus Schaden kuratierten Ausstellung Track-22 über die Tage der Hoffnung und Verzweiflung nach dem Sturz von Präsident Salvador Allende in Chile, ist jedenfalls eine Reihung ganz subjektiver Alltagsbeobachtungen aus jener Zeit. Diese entfalten eine eigene poetische Kraft und lösen beim Betrachter eher gedämpfte Stimmung aus, lassen ihn aber ohne jede weitere Erklärung tendenziell ratlos zurück.

Das trifft auch auf die mit Abstand umfangreichste Dokumentation eines einzelnen Konfliktes zu, die in Krakau präsentiert wird: Josef Koudelkas bekannte Fotografien der sowjetischen Invasion in Prag 1968 zeigen den Schrecken und das Entsetzen, aber auch den Trotz und die Bereitschaft zum Widerstand in den Gesichtern der Bevölkerung. Die Zuspitzung des Konflikts und die Entladung der Gewalt, bei der damals rund 150 Menschen getötet wurden, lässt die hochexplosive Stimmung emotional nacherleben. Das funktioniert großartig. Aber auch hier: Das entsprechende Wissen wird vorausgesetzt, denn über den Konflikt und seine Vorgeschichte erfahren wir nichts.

Fotos suchen uns heim

Mit entsprechendem Vorwissen sind manche fotografische Arbeiten zu schweren Konflikten aber umso interessanter: Groß wie eine Tageszeitung zeigt die Publikation Taksim Calling von Frederic Lezmi (ebenfalls Track-22) Vergrößerungen von Postkarten mit alten Ansichten des Taksim-Platzes in Istanbul. Auf der Rückseite hat Lezmi seine persönlichen "Grüße" verfasst - in Form von Fotos, die er vor Ort von den Demonstrationen, Tränengasangriffen und Barrikaden gemacht hat. Taksim Calling hat es mit seinen Doppeldeutigkeiten in sich: Das Zeitungsformat ist eine Kritik an den türkischen Medien, die nahezu nichts über die Proteste gebracht haben; die Postkarten zeigen eine Idylle, die es längst nicht mehr gibt; die eigentlichen Fotos hat Lezmi mit dem iPhone gemacht und spielt damit auf die Verbreitung solcher Bilder über Social-Media-Kanäle an, die bei den Protesten eine wichtige Rolle gespielt haben. Lezmis Arbeit ist ein starkes künstlerisches Statement, sie trägt in keinster Weise zum Verständnis des Konfliktes zwischen den Demonstranten und der türkischen Regierung bei, sondern setzt dieses sogar voraus.

Wenn ausführliche Bildstrecken nicht dazu in der Lage sind, komplexe Sachlagen zu erklären, wie soll das ein einzelnes Foto in einer Zeitung oder in einem Newsstream leisten? Die Antwort ist einfach: gar nicht. Muss es aber auch nicht. Die Fotografie hat zwar seit ihrer offiziellen Erfindung 1839 nahezu jeden Bereich unserer Kultur, Wissenschaft, Wirtschaft und Politik, kurzum: unseres Lebens verändert, das heißt aber nicht, dass sie deshalb alles andere verdrängt. Insofern ist auch der Einschätzung des deutschen Fotografen und Turner-Preisträgers Wolfgang Tillmans, der im Interview mit dem britischen Guardian bereits davon gesprochen hat, dass Fotos immer mehr das Wort als Übermittler von Nachrichten ersetzen, nur bedingt zuzustimmen.

Die Kraft einer Fotografie ist enorm. Sie kann Menschen zusammenbringen oder trennen, die öffentliche Meinung und Kriege beeinflussen. Sie kann kommentieren und in einem Bild verdichten, wozu die berühmten tausend Worte nicht imstande sind. Fotos "suchen uns heim und lassen uns nicht mehr los", schrieb Susan Sontag in ihrem Essay Das Leiden anderer betrachten aus dem Jahr 2003. Denken wir an Jeff Wideners Tank Man, den Mann mit den Plastiktüten, der sich auf dem Platz des Himmlischen Friedens vor vier anrollende Panzer stellt und so zum Symbol des (gescheiterten) Widerstandes wird - zumindest außerhalb Chinas. Ähnliches gilt für die elegant gekleidete Woman in Red von Osman Orsal, die im Gezi-Park von einem Polizisten aus direkter Nähe mit Tränengas besprüht wird. Und natürlich die Ikone schlechthin, das Napalm Girl von Nick Ut, die nackt und brennend vor dem Angriff auf ihr vietnamesisches Dorf flüchtet und der US-Öffentlichkeit vor Augen führt, was der sinnlose Krieg für die Zivilbevölkerung bedeutet.

Was Fotos vermitteln können, ist ein Eindruck von den Schrecken des Krieges - besser, direkter und unmittelbarer als jede schriftliche Schilderung. Und: Fotografien helfen uns dabei, uns zu erinnern: An Kriege, von denen wir Bilder gesehen haben, können wir und besser erinnern als an Kriege, von denen wir nur gehört oder gelesen haben. (Damian Zimmermann, 24.5.2015)