Prachttheater mit wandelndem Lampenschirm: "Antigonón".


Foto: Lessy

Wien - Die Caldosa, ein köstlicher Fleischeintopf, ist der Kubaner Nationalgericht. Mit den Astralkörpern von fünf Schauspielern hat Regisseur Carlos Díaz ein ebensolches Heldengulasch "gekocht". Es handelt sich dabei eher um ein Dekonstruktionsgulasch, das den Heldenbegriff fantasievoll in Händen dreht und wendet, von der titelgebenden mythologischen Gestalt der Antigone bis hin zu kubanischen Freiheitskämpfern oder den von der Geschichte gebeutelten kubanischen Arbeiterinnen und Müttern.

Antigonón, un contingente épico (deutsch: "Helden wie Antigone"), noch bis 27. Mai im Theater Akzent zu sehen, ist ein Karneval, eine Peepshow und ein Heiner-Müller-Stück zugleich.

Stichwort Heiner Müller: Der hochbegabte und in Europa noch kaum entdeckte Dramatiker Rogelio Orizondo (geboren 1983 in Santa Clara auf Kuba) hat die Poeten des Sozialismus studiert und nämlichem DDR-Schriftsteller gar ein Stück gewidmet: Gestern habe ich aufgehört, mich zu töten. Dank dir, Heiner Müller. 2010 erhielt er dafür unter anderem den Virgilio- Piñera-Preis. Orizondos Sprache vermählt Theorie mit Theaterpracht. Bei der Wien-Premiere (einem einmaligen Europa-Gastspiel) kommt man aus dem Staunen nicht heraus, wie klug und aufregend sich hier Mythos und Arbeiterkultur, Weltgeschichte und Küchenrezepte, Märtyrerbriefe und WHO-Fleischkonsumwarnungen zueinander verhalten.

Wer dabei das sprechende "Ich" ist, wird nicht immer gleich klar. Eine Frau im Perlenkleid beispielsweise schmettert ihre mit heftigen spanischen "rrrr"-Salven aufmunitionierte Rede über die Rampe: "Aber wenn ich dich so richtig anschaue, mein Kleiner, / und an die Jahre denke, die ich schon an dir dran bin, / steigt die Wut in mir hoch, und ich will meine Stechkarte nicht mehr stecken." Wendet sich hier eine Arbeiterin an den Sozialismus höchstselbst? Andersherum passiert es einfach zu selten.

Es ist, als ob Rogelio Orizondo Bertolt Brechts Gedicht vom Lesenden Arbeiter fortschriebe. Ein anderes Beispiel für Orizondos blühende Geschichtsvertikalschnitte: "Gestern kaufte ich bei Ikea eine Waage. / Ich werd' mal abwiegen, was an mir von meinem Land noch übrig ist."

Mit Antigonón steht auch ein ungewöhnliches "Frauenstück" im Raum, das die Selbstbehauptung eines kolonialisierten Volkes (gedacht als Antwort auf den Nationaldichter José Martí, 1853- 1895) als Körperkampf der Frauen zeigt. Der Kampfanzug ist dabei die Nacktheit: Drei Schauspielerinnen treten in diversen Oben- und Unten-ohne-Varianten spielerisch und akrobatisch perfekt in den Krieg um das Heldennarrativ. Antigonón wird so allmählich zu einem hochpolitischen Catwalk. Solche ihrem Tun bedingungslos verbundene Spieler sieht man nicht alle Tage. (Margarete Affenzeller, 26.5.2015)