Cecilia Bartoli als intensive Iphigénie in Salzburg.

Salzburg - Es ist Krieg. Man sieht eine Welt in Schräglage: eine Notunterkunft mit wenig mehr als ein paar Bettgestellen und einem versifften Waschbecken. Ein großes verrostetes Metalltor schirmt von der feindlichen Außenwelt ab. Iphigénie, die Priesterin, hat hier keine Sonderstellung: Ihre Jogginghose ist von der Altkleidersammlung, und den Kurzhaarschnitt muss wohl eine ungeübte Kollegin an ihr verbrochen haben (Bühne: Christian Fenouillat, Kostüme: Agostino Cavalca).

Ohne Zweifel: Die Frau ist am Ende. Seit 15 Jahren muss die Königstochter im Exil auf Befehl des xenophoben Skythenkönigs Thoas jeden Fremden, der in sein Land kommt, umbringen - Pardon: den Göttern zum Opfer darbringen. Und immer noch herrscht Ausnahmezustand, Moshe Leiser und Patrice Caurier machen dies gleich von Beginn an deutlich. Zu den Sturmklängen der Gluck-Ouverture werden Kriegsgeräusche zugespielt: explodierende Bomben, Maschinengewehrsalven, Helikoptergeschwader.

Immer tolle Sachen

Ja, Cecilia Bartoli traut sich da zu Pfingsten in Salzburg immer wieder tolle Sachen: 2013 wurde die Intendantin, als Norma von der Druidin zur Dorflehrerin im Anna-Magnani-Look, die sich gegen wehrmachtsnahe Besatzungskräfte zu wehren versuchte. Im letzten Jahr musste die quirlige Chefin der Pfingstfestspiele als Rossinis Cenerentola in einer Inszenierung von Damiano Michieletto im Selbstbedienungsrestaurant ihres Vaters putzen. Klingt alles ein wenig nach aufgesetzten Regiemätzchen, war es aber nicht. Sondern unterhaltsames, hochklassiges Musiktheater. Und nun findet sich also Glucks Atriden-Oper von 1779 auf dem schmutzigen, schlecht gekachelten Boden der Realität von heute wieder. Macht das Sinn? Ja. Gluck wollte in seinen Reformwerken der Oper zu mehr Natürlichkeit und Lebensnähe verhelfen: die starren Formen aufbrechen, hohle Theatralik bannen, das Glamouruniversum der Koloraturstars verlassen und wieder zu menschlicher Bodenhaftung finden.

Die Nähe zum menschlichen Leid (von heute) ist es denn auch, welche in der Inszenierung von Leiser/Caurier so berührt. Dies ist nur möglich dank exzellenter darstellerischer Leistungen: Allen voran gelingt dies Christopher Maltman als Oreste mit seiner magnetischen Bühnenpräsenz; von bezwingender Intensität auch sein Bariton, mal von bärenstarker Kraft, mal verletzlich zart und verzweifelt-gebrochen.

Topi Lehtipuu ist ihm als Pylade im Boku-Studentenoutfit ein aufopfernder Freund, Michael Kraus gibt den Thoas im Business-Look und setzt sängerisch auf größtmögliche Kraftdemonstration. Sinnlich-fein Rebeca Olveras Diane, die das Regieduo zum Ende ganz in Gold in Szene setzt: ein bisschen Theater, ein bisschen Kunst, ein bisschen Aussicht auf ein wenig Glanz, Glück und Schönheit muss sein.

Rührend auch die sakrale Innigkeit, mit der die zehn Sängerinnen des Coro della Radiotelevisione Svizzera die Chöre der Priesterinnen singen. Seidenweich und wärmend, flauschig und silberzart musiziert das Ensemble I Barrocchisti unter der energisch-exzentrischen Leitung von Diego Fasolis; Härte, Rauheit, Gewalt misste man. Und Bartoli vermag als Iphigénie ihr darstellerisches Outrieren meist zu zügeln und interpretiert die Sopranpartie gewohnt intensiv und doch schlicht, trotz ihrer glänzend-gurrenden Singart. Rührung schon zur Pause, am Ende helle Begeisterung für den packenden Abend. Nur wenige Buhs für die Regie.

2016 wird Pfingsten in Salzburg ebenfalls nichts für schwache Nerven: Cecilia Bartoli lässt in der Felsenreitschule Musical spielen, die 48-jährige Intendantin singt in Leonard Bernsteins West Side Story die Maria. Da wird wohl mancher Besucher zuvor ein Stoßgebet gen Himmel schicken. (Stefan Ender, 26.5.2015)