Von Stalin heißt es, er habe die Schule als bester Schüler verlassen und sei dann fürs Priesterseminar empfohlen worden ... über eine besondere Liebe zur Mathematik ist nichts bekannt, wohl aber, dass er beim Lesen "verbotener Bücher" erwischt worden ist.

Foto: Matthias Cremer

Wien - Die Schülerinnen und Schüler haben die Premiere der Zentralmatura an den AHS gut über die Bühne gebracht, die Durchfallsrate bei den schriftlichen Arbeiten, die heuer zum ersten Mal österreichweit einheitlich waren, lag in etwa in der Größenordnung der "alten" Reifeprüfung. Aber die Mathematik-Matura sorgt zumindest in der Community der akademischen Mathematiker für Aufregung.

Grund dafür sind die Aussagen des Mathematikers Rudolf Taschner, der an der Technischen Universität (TU) Wien am Institut für Analysis und Scientific Computing lehrt und Betreiber des "math.space" im Museumsquartier ist. Er bezeichnete im Ö1-"Morgenjournal" eines der Maturabeispiele als "Stumpfsinnbeispiel, das war sinnlos" und übte scharfe Kritik am Bundesinstitut für Bildungsforschung, Innovation und Entwicklung im österreichischen Schulwesen (Bifie) - und in einem Atemzug auch gleich an seinen mathematischen Zunftkollegen, die sich nun dagegen scharf verwahren.

"Stumpfsinnbeispiel" oder nicht

Taschner hatte nämlich in Bezug auf das dritte - das "sinnlose" - Beispiel des ersten Teils der Mathe-Matura gemeint, es sei quasi stalinistisch durchgedrückt worden: "Die Leute vom Bifie, man hat's ihnen fünfmal gesagt und sie haben immer erklärt, ja, die ÖMG, so nennt man das, gleichsam wie: Genosse Stalin hat das für gut befunden ... das war aber kein gutes Beispiel ..."

Die ÖMG ist die Österreichische Mathematische Gesellschaft, und sie wehrt sich gegen die "rüden Worte" Taschners in einer von Stefan Götz von der Fakultät für Mathematik und dem Zentrum für LehrerInnenbildung der Universität Wien unterzeichneten Stellungnahme. Ein Dutzend Mathematiker von Universitäten hätten die Beispiele vorher "begutachtet und freigegeben", Taschner meine "anscheinend jedoch, dass alle diese Kollegen vom Fach nichts verstehen und unterstellt ihnen fundamentale Inkompetenz".

Mathematiker bestätigen Korrektheit

Die Korrektheit der von Taschner in Grund und Boden geredeten Aufgabe, in der es um ein "Skalarprodukt" geht, sei mittlerweile durch fünf schriftliche fachliche Stellungnahmen (Franz Embacher, Michael Grosser, Hans Humenberger, Michael Kunzinger und Erich Neuwirth, alle von der Uni Wien) sowie viele weitere E-Mails von ÖMG-Mitgliedern außer Frage gestellt, heißt es in dem Papier.

Erich Neuwirth ordnet den Stalin-Sager von Taschner als "eklatantes Vergreifen im Ton" gegen Kolleginnen und Kollegen ein: "So sollte man als Wissenschafter nicht miteinander umgehen", sagt der Mathematiker und Informatiker im STANDARD-Gespräch. Zumal das von Taschner angesprochene Beispiel "nicht furchtbar" sei: "Man kann darüber nach Feierabend unter Kollegen reden, es ist eine Kleinigkeit, weil es letztlich nur eine Geschmacksfrage ist, aber sicher keine, die dazu taugt, Kollegen die Kompetenz abzusprechen."

Mathematik mit Swing

Neuwirth, selbst auch Musiker, der sich zwischen Klassik und Jazz bewegt, nimmt zur Erklärung ein Beispiel aus der Musik: "Taschner, dem die Nomenklatur in dem Fall nicht gefällt, sagt, man muss das immer so schreiben, wie er meint. Es wurde aber eine weichere Schreibweise - dem Kontext angemessen - gewählt. Aber wie in der Musik muss man auch in der Mathematik die Notenschrift verschieden interpretieren. Taschner beharrt auf der Klassik, während man im Jazz dieselbe Notenfolge auch mit dem Swingfaktor spielen kann."

Er selbst sagt zum ersten Durchgang der Zentralmatura in Mathematik, dass die "Premiere einwandfrei war, so wie das zu erwarten war. Die Beispiele waren alle durchwegs vernünftig". Als Unilehrer, der nicht nur Studierende in den sogenannten MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) unterrichtete, sondern auch Lehramtsstudierende mit Zweitfächern nicht aus dem MINT-Bereich, zum Beispiel Historiker, deren akademisches Primärinteresse nicht die Mathematik war, die aber zum Studienplan dazugehörte, schätze er die neue Zentralmatura, sagt Neuwirth: "Jetzt ist endlich abgesichert, dass es einen gewissen Grundvorrat an mathematischen Fertigkeiten gibt, den alle Maturantinnen und Maturanten auch wirklich mitbringen."

Die Basis müssen alle können

Bisher habe es oft Probleme gegeben, wenn einzelne Lehrerinnen und Lehrer bestimmte Teilbereiche der Mathematik einfach nicht unterrichtet und dann eben auch bei der Matura nicht geprüft haben - und an der Uni saßen dann plötzlich Studierende im Seminar, die noch nie von Statistik gehört haben. "Das ist einer der wichtigsten Effekte der neuen Matura, dass es ein anzunehmendes allgemeines Mathematikniveau gibt, das auch wirklich allen vermittelt wird."

Die Klagen, auch von Rudolf Taschner vorgetragen, dass für die "Kür", also für höhere Mathematik, kein Platz mehr bleibe, teilt Neuwirth nicht. "Im Rahmen der vorwissenschaftlichen Arbeit und bei der mündlichen Matura gibt es genug Spielraum für ein deutliches Überschreiten des Grundniveaus - aber dieses müssen in Zukunft wenigstens alle können."

Er beschreibt den Unterschied zwischen alter und neuer Matura so: "Früher ging es manchmal darum, dass man die Tonleiter noch schneller spielen kann, aber man musste sich nicht so sehr mit Musik auseinandersetzen", auf die Mathematik übertragen bedeute das: Früher war das "Handwerkszeug" für die Lösung der Aufgaben zwar "aufwändiger", heute leiste dafür vor allem der zweite Teil der Matura das, was am Ende einer höheren Schule eigentlich erwartet werden müsse: "Dass man das kann, was jemand, der sich als allgemein gebildeter Mensch versteht, auch einige Zeit nach der Matura noch können sollte." (Lisa Nimmervoll, 29.5.2015)