Ich bin unter Wasser. Zu meinen Füßen schimmert der Boden eines versunkenen Schiffs, nach oben sind es vielleicht 25 Meter bis zur Oberfläche. Nicht mehr alle Wellenlängen finden noch den Weg zu meinen Augen. Ich gehe einen Schritt nach vorne an die vermoderte Reling und sehe den kleinen und größeren Fischen bei der Nahrungssuche zu. Manche von ihnen scheinen mich nicht als bedrohlich wahrzunehmen und schwimmen unerschrocken auf mich zu. Ich ducke mich, so gut es geht, seitlich weg, einer donnert trotzdem gegen meinen Kopf. Im nächsten Augenblick ist er wieder in der unbegreiflichen Ordnung der Natur verschwunden. Vorsichtig beuge ich mich über das Geländer und blicke in die dunkelblaue Tiefe hinab. Für einen Moment verliere ich mich in der Stille der Ungewissheit. Schnorcheln konnte ich schon öfters, doch so weit eingedrungen war ich in die Geheimnisse des Meeres noch nie. Ich spüre die Kälte nicht, und ich kann auch das salzige Wasser nicht schmecken, doch es ist, als wäre ich wirklich da.

Eine Schule kleiner Fische huscht an mir vorbei und verhindert ein Abdriften in meditative Bewusstseinszustände. Ein Schatten schiebt sich zwischen mich und die Sonne. Ich blicke nach links oben und springe atemlos zurück. Ein gigantischer Blauwal zieht in einem ewig lang erscheinenden Flossenschlag an mir vorbei und zeigt mir, wie klein ich bin. Ergriffen trete ich näher und strecke meine Hand nach ihm aus, doch ich kann ihn nicht erreichen. Für eine Sekunde haben wir Augenkontakt, bevor ein letzter Stoß seiner mächtigen Heckflosse mich zurück in die Schranken weist.

Noch nie zuvor habe ich mich klein gefühlt in einem Videospiel. Egal ob ich gegen einen gigantischen Drachen oder einen Mutanten kämpfte oder die Skyline von Los Santos bestaunte: Bisher starrte ich als Außenstehender stets entkoppelt durch ein Fenster in die Spielwelt hinein. In meinem 30-minütigen Test der Virtual-Reality-Systeme HTC Vive und Steam VR wurde ich ein Teil von ihr.

Im Zuge der Demo durften weder Fotos noch Videos aufgenommen werden. Ich werde daher versuchen, meine Erlebnisse so bildlich wie möglich wiederzugeben. Dieses Foto entstand mit der Kamera eines liebenswerten Kollegen der "NZZ" und wurde von einem hilfreichen Betreuer der PR-Agentur geschossen. Es zeigt den Autor, der so tut, als würde er mit dem unverkabelten Prototyp des HTC Vive irgendetwas sehen können.
Foto: DER STANDARD

Eine fremde Raumzeit

Es fällt schwer, die Faszination zu beschreiben, die ich bei meinem vierten Abflug (auf dem dritten Prototyp) in die virtuelle Realität empfand. In einem Testzimmer voller Kabel stehend, die von einem PC zu einem frühen, aber voll funktionstüchtigen Headset führen, erwartet man sich nicht, in Kürze durch verschiedenste Universen gejagt zu werden. Doch sobald man diese Brille aufsetzt und die Kopfhörer die Ohren umschlossen haben, wird die reale Welt vom Gehirn in den Bereich des Unterbewussten geschoben. Ein gespenstisches Gefühl. So neuartig, dass man sich von den kleinsten Dingen begeistern lässt.

Ich stehe in einem Holodeck-ähnlichen Tutorialraum und versuche der menschlichen Stimme aus dem Off zu folgen, die mir erklärt, dass ich gleich Controller in die Hand gedrückt bekomme. Gespannt öffne ich meine Fäuste und stelle mir vor, wie dämlich ich von außen aussehen muss. Wie ein Küken, das gerade aus dem Ei geschlüpft ist. Zwei virtuelle Controller tauchen vor mir auf – einer für die linke und einer für die rechte Hand. Intuitiv greife ich danach und umschließe sie in der realen Welt genau dort, wo sie angezeigt werden. Ich habe jetzt digitale Hände.

Im nächsten Schritt wird mir erklärt, dass ich mich frei bewegen kann. Ich tapse achtsam in alle Richtungen, traue mich sogar, in die Knie zu gehen und die kubischen Formen der Simulationsplattform aus allen Perspektiven anzusehen. Für die zwei Herren hinter mir muss es sein, als sähen sie einem Fohlen bei den ersten Schritten zu. Wenn sie unter ihrer professionellen Miene kichern, nehme ich es ihnen nicht übel. Wenige Versuche später habe ich ein Gespür für dieses fremde Raumzeitgefüge entwickelt. Wobei es mir auch im Nachhinein schwerfällt zu sagen, wie lange ich wirklich weg war.

Damit ich nicht gegen die Wand laufe, wird mir durch aufleuchtende Schranken angezeigt, wenn ich zu nah an ein Hindernis gerate. Zwei Lighthouse-Sensoren (einer links vor mir und ein anderer rechts hinter mir) vermessen das Zimmer und bilden ein unsichtbares Infrarotgitter, das von den unzähligen Sensoren auf Headset und Controller erfasst wird und mir so eine natürliche Bewegung im Spiel ermöglicht. Eine Besonderheit dieses Systems.

Bildende Künste

Mit digitalen Augen, Ohren und Händen ausgestattet, erlebe ich die ersten Demos weitgehend passiv. Neugierig gehe ich nach meinem Rendezvous mit dem Wal um einen Modelltisch für Hobbygeneräle herum. Ich blicke wie Gott auf einen kriegerischen Minimundus herab und beobachte den Schauplatz umkreisend gespannt, wie Truppen eine Stadtmauer angreifen und Geschoße Fronten wechselnd die Luft zerschneiden. Flugzeuge schwirren über mein Haupt hinweg und setzen zum Sinkflug an. Die Auflösung der Bildschirme ist, ähnlich wie bei allen bisher von mir ausprobierten VR-Brillen, nicht hoch genug, um ganz nah herangelehnt Gesichter einzelner zum Leben erweckter Zinnsoldaten zu erkennen, doch so klein ich mich vorher unter Wasser fühlte, so groß und übermenschlich komme ich mir nun vor.

In der nächsten Demo darf ich selbst Hand anlegen. In einem dunklen Raum vor eine Pflanze teleportiert, werde ich zum Maler mit einer Farb- und Werkzeugpalette in der linken und einem vielseitigen Pinsel in der rechten Hand. Mit dem Pinsel nehme ich die gewünschte Farbe auf und bewege dafür tatsächlich meine rechte Hand zur linken. Ich zeichne grüne und pinke Linien ins Nichts und fülle die Leere alsbald mit Feuerkreisen und Schneeflocken. Könnte ich zeichnen, hätte es vermutlich auch ein impressionistisches Spiegelbild meiner blühenden Fantasie sein können. So ist es ein chaotischer Regenbogen, umzingelt von Neonschlangen. Es funktioniert, ohne groß nachzudenken, als stünde man vor einer Staffelei, nur dass man um jeden Pinselstrich herumgehen und dessen Vollkommenheit im Raum betrachten kann. Als wagte man sich vom Zeichenblatt zur Bildhauerei. Das Tracking, also die Erfassung der Hand- und Kopfbewegungen, klappt so gut, dass man selbst losgelöst von der Realität seine Feinmotorik nicht verliert. Finger werden nicht abgebildet, doch über Trackpads und Abzüge wird ihr Einsatzspektrum zumindest für simplere Bewegungen hervorragend simuliert.

Das mag nach fast banalen Aufgaben und für erprobte Spieler bestimmt nicht nach großen Herausforderungen klingen, doch VR macht selbst unspektakulär erscheinende Tätigkeiten aufregend. Und hätte ich danach auf einem Tablet oder mit einem Controller oder einer Maus am Computerbildschirm kochen müssen, hätte sich meine Begeisterung für eine virtuelle Kochstunde zweifellos in Grenzen gehalten. So stand ich als Nächstes in einer Chefküche und machte mich für eine Suppe auf die Suche nach Tomaten und weiteren Zutaten. Ein Stück Obst geschnappt und das Messer hinter mir, beginne ich wie auf einer echten Arbeitsplatte zu schneiden, während mir ein nerviger kleiner Roboter Anweisungen gibt. "Kann ich die Eier auch werfen?", frage ich mich laut und fetze im gleichen Moment schon eines auf den Monitor des blechernen Kollegen, der lautstark protestiert. Ich lache. Darüber, dass die Entwickler bereits damit gerechnet hatten, und darüber, dass ich gerne länger für nicht vorhandene Gäste kochen würde.

Über zwei Infrarotsensoren wird der Spielraum vermessen, um eine freie Beweglichkeit in VR zu ermöglichen. Will man im Spiel gut herumgehen können, benötigt man laut HTC eine Fläche von drei mal drei Metern.
Foto: Valve

Irreale Faszination

Betrachtet man ein zweidimensionales Bild dieser recht rudimentären Spielgrafik, kann man es nicht nachvollziehen. Computergrafik, digitale optische Reize erhalten durch die 360 Grad umspannende Darstellung jedoch eine völlig neue Dimension. Ich trete in eine Galerie und schaue mir einzelne Schaustücke an. Sobald ich nahe herantrete, passt sich der gesamte Raum thematisch an. Das Modell eines Piratenschiffs katapultiert mich etwa unter Deck, und schon wähne ich mich auf hoher See. Ich begutachte ein astronomisches Instrument, und mit einem Schlag erstreckt sich das gesamte Sonnensystem über meinem Kopf. Eine Demo, die die Einsatzmöglichkeiten von VR abseits von Spielen verdeutlicht. Museen könnten damit ihre Sammlungen zum Leben erwecken oder Reisebüros gleich virtuelle Trips anbieten.

Das Finale der Testbatterie mündet in einer kleinen Werkstatt. Die Computerstimme verrät, dass ich mich nun bei Aperture Science, dem fiktiven Konzern der Spielreihe "Portal", befinde. Ich werde angehalten, Schubladen zu öffnen und Schalter zu betätigen, und entdecke dabei ein Stück verfaulten Kuchen (ein alter Serien-Insider: "the cake is a lie") und auch eine Horde Miniaturmenschen, die ich lieber wieder zurück in die Lade schiebe. Auf Geheiß öffne ich schließlich das große Tor zu meiner Linken, und hinein stapft ein menschenhoher Roboter. Ich weiche einen Schritt zurück und ergötze mich als Sci-Fi-Fan an der perfekten Animation. Ich soll ihn reparieren und reiße dafür mit voller Kraft an seiner Schnauze, worauf sich die gesamte Maschine in ihre Einzelteile aufspaltet und vor mir in der Luft zum Stehen kommt. Ich versuche konfusen Anweisungen der Computerstimme zu folgen und drehe und schiebe wie wild an den Bedienelementen herum. Komplett überfordert laufe ich um das Ding herum und versuche dabei nicht über die realen Kabel unter mir zu stolpern und muss schließlich zusehen, wie dieses Stück Hightech in tausende Teile zerfällt. Es war alles nur ein Trick: Glados, der fiese Supercomputer und Gegenspieler von "Portal", meldet sich und nimmt die Werkstatt komplett auseinander. Plötzlich stehe ich nur noch auf einer kleinen Plattform und sehe hunderte Meter vor, unter und über mir die gigantischen Ausmaße einer Fabrik. Roboterarme schwirren umher, und der Boden unter mir wird weggeklappt. Erschrocken springe ich zurück und blicke in den Abgrund. Schwindlig wird mir zwar nicht, aber herunterfallen will ich auch nicht. Glados beugt sich zu mir, und zum ersten Mal begreife ich wirklich, wie gigantisch diese künstliche Intelligenz ist und wie ausgeliefert ich ihr bin. Sie versichert mir, dass alles gut ist. Dann verschwindet sie wieder, und alles fällt zusammen.

Das Design von HTC Vive ist noch nicht final. Aktuell fühlt es sich so an, als würde man eine etwas zu schwere Taucherbrille tragen. Auch die Verkabelung soll sich noch verändern. An der Front zu sehen sind die dutzenden Sensoren, die auch an den Controllern angebracht sind und dafür sorgen, dass die Bewegungen des Trägers eins zu eins in die VR-Welt übertragen werden.
Foto: HTC Vive

Was es dafür braucht

Man kann die Faszination der Virtual Reality nicht nachvollziehen, bis man sie selbst in einer derart gelungenen Form erleben konnte. Im Ansatz mögen es Videospiele bleiben, doch öffnet sich mit dem Eintritt in die Spielwelt auch ein Tor zu einer ganz neuen Gefühlswelt. Größenverhältnisse werden spürbar, Fantasielandschaften zu tatsächlichen Ausflugszielen für Eskapisten. HTC und Valve haben mit Vive ein System geschaffen, das zumindest in diesem ersten Probelauf so gut funktioniert, dass man von einer Marktreife sprechen kann. Während des Tests kamen weder Kopfschmerzen noch Übelkeit auf, und in der Tat wäre ich gerne noch viel länger in der Parallelwelt verblieben. Wenn es einen Punkt zu bemängeln gibt, dann ist es, wie auch schon bei den Prototypen von Oculus Rift und Project Morpheus, die Auflösung der Displays, die noch nicht ausreicht, um Bilder und Kanten gestochen scharf wiederzugeben. Doch es reicht, um überzeugende Kulissen zu simulieren. Ein für den Anfang mit Sicherheit akzeptabler Kompromiss, der garantiert, dass Early Adopter von VR-Systemen keinen Supercomputer zum Spielen benötigen.

Das noch nicht dauerhaft bequem sitzende Design und die Anschlüsse sind noch nicht final, und auch der Kabelsalat soll noch weitgehend ausgedünnt werden, sodass nur noch ein HDMI- und ein Stromkabel zur Brille führen und Controller kabellos funktionieren. Will man volle Beweglichkeit, benötigen die beiden Raumsensoren, die eine eigene Stromverbindung brauchen, laut einem HTC-Sprecher mindestens drei mal drei Meter Platz, darunter werde man aber auch weniger aktionsreiche Inhalte im Stehen oder Sitzen genießen können. Unkompliziert ist die Anwendung jedenfalls nicht, und es gibt noch einige Fragen bezüglich Kabelsicherung, damit man nicht darüber stolpert, und Umgebungseinbindung zu klären. Wie schafft man es, Spielern ein ungestörtes Erlebnis zu bieten, ohne dass sie sich in einem Raum einsperren müssen aus Angst, von jemandem erschreckt zu werden?

Bei den Kosten wollte sich der Hersteller noch nicht auf eine Zahl festlegen, doch eines sei klar: Zum angepeilten Marktstart Ende 2015 wird HTC Vive ein "Premiumprodukt" sein, das in einer erst aufkommenden Nische die beträchtlichen Entwicklungskosten einspielen muss. Hinzu kommt, dass Valve die benötigte PC-Hardware spezifiziert und Anwender insbesondere eine starke Grafikkarte (Nvidia GTX 980 oder auch GTX 960) mit HDMI-1.4-Anschluss benötigen.

Die Spezifikationen von HTC Vive und derzeitigen Content-Partner. Erscheinen soll das Headset noch Ende 2015, konkrete Inhalte sowie ein Preis wurden noch nicht angekündigt.
Quelle: HTC

Einschätzung und Ausblick

Es ist etwas gänzlich anderes, ein Spiel zu spielen oder wahrhaftig darin einzutauchen. Wenngleich sich die grundlegende Hardware zwischen den drei führenden Systemen nicht maßgeblich unterscheidet, liefert Vive sehr gute Argumente für ein derart ausgeklügelktes Steuerungskonzept, das Anwender aus ihren Stühlen holt. Es ist zu hoffen, dass die Lösung von Sony mit PS-Move-Integration zumindest ähnlich gut funktioniert. Oculus Rift soll bis zur Einführung eines eigenen Motion-Controllers ein Sitz- oder Steherlebnis bleiben.

Eines ist jedenfalls auch nach dieser Demo klar: VR-Inhalte müssen, wenn sie wirklich überzeugen sollen, von Grund auf für die Technologie entwickelt worden sein. Ich durfte in den vergangenen Jahren schon die eine oder andere Portierung eines herkömmlichen Videospiels mit VR-Headsets testen, und obwohl die Atmosphäre eines "Alien Isolation" und eines "Dying Light" im Spiel gut rüberkommen, konnte nichts annähernd so starke Emotionen bei mir erzeugen wie die besprochenen Demos. Es braucht Inhalte, die von der Kameraausrichtung über das Interface bis zu den tatsächlichen Aktivitäten speziell auf VR zugeschnitten wurden. Ich persönlich hoffe und glaube, dass das zumindest in den ersten Jahren vor allem kleinere, weniger actionreiche Werke sein werden, die Neulingen Zeit geben, sich mit diesem Medium vertraut zu machen. Es ist der Aufbruch in eine neue Unterhaltungsform. Eine Wende, die an die Bilder jener Menschen erinnert, die Anfang des 20. Jahrhunderts erstmals einen Kinofilm betrachteten und vor Angst erstarrten, als der Zug durchs Bild fuhr. Nur dass der Zug jetzt nicht mehr durchs Bild, sondern durch den Kinosaal fährt.

Rein visuell schenken sich die drei großen Anbieter bislang eher wenig bzw. sind die Systeme zum jetzigen Zeitpunkt aufgrund des geringen Softwareangebots nur bedingt vergleichbar. Das Design muss und soll bei Vive noch vereinfacht und die Kabel reduziert werden und vor allem wird es zum Start mehr als ein paar Demos brauchen, die die Anschaffung eines neuen Geräts, einen leistungsstarken Spiele-PCs und den Platz zum Bewegen rechtfertigen. Die Technologie jedoch, ist endlich soweit. Gewiss wird und muss sich in den nächsten Jahren speziell bei der Auflösung noch viel tun, und rückblickend wird man über diese Anfänge noch schmunzeln. Doch aus heutiger Sicht und mit einer Prise "Star Trek" geprägtem Optimismus, waren Sci-Fi-Fans dem Holodeck noch nie so nah. (Zsolt Wilhelm, 14.6.2015)

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