Neulich in San Francisco, im Commonwealth Club of California. Bruce Schneier, amerikaweit einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Computersicherheit, philosophiert über das zwiespältige Verhältnis, das seine Landsleute zu Big Data haben. "Verlangte die Regierung von uns, jederzeit Überwachungsgeräte bei uns zu tragen, gingen wir natürlich auf die Barrikaden. Forderte uns das FBI dazu auf, ständig im Bilde darüber zu sein, was unsere Freunde gerade tun, würden wir alle sofort zu Rebellen."

Aber tue man Letzteres nicht, indem man immerzu bei Facebook nachlese, von Facebook alarmiert werde, wenn Freunde auch nur ein neues Foto ins Netz gestellt hätten? Wer in allen Lebenslagen sein Handy in Reichweite habe, nehme der nicht billigend in Kauf, jederzeit anzuzeigen, wo er sich gerade aufhält? Nur: Wolle er deswegen auf ein so praktisches Hilfsmittel wie ein Handy verzichten?

"Wir leben im goldenen Zeitalter der Überwachung", sagt Schneier. Computer, Überwachungskameras, Smartphones, elektronische Ladenkassen: alles Instrumente, um Daten zu speichern. Und weil das Datenspeichern so preiswert geworden sei, betreibe man es bis zum Exzess.

Die NSA, fügt Schneier hinzu, handle per se nach dem Grundsatz: "Kannst du es sammeln, dann sammelst du es" – eine Mentalität des Vollständigkeitswahns. Sie zu bremsen könne nicht mit technischen Mitteln, es könne nur durch politisches Handeln geschehen.

Wobei immer wieder festzustellen ist, dass die Abhöroffensive der NSA ausgesprochen differenzierte Reaktionen hervorruft, je nachdem, ob sie Amerikaner betrifft oder "nur" das Ausland. Lautstarke Proteste (und nachfolgende Reformen, wenn auch bescheidene), wenn es um das lückenlose Sammeln der Verbindungsdaten einheimischer Telefonkunden geht. Eher ein Achselzucken, einmal abgesehen von Anwälten und Aktivisten an den liberalen Küsten, wenn das weltweite Ausspähen des Internets, wenn die Privatsphäre Bürger anderer Staaten zur Debatte steht. "America first", kann man sagen.

Der gläserne Kunde

Mitteleuropäer behaupten gern, der Datenschutz in den USA sei unterentwickelt. Das stimmt. Als Nachrichten die Runde machten, denen zufolge die Lufthansa nicht lückenlos informiert gewesen sei über die Krankengeschichte des Piloten Andreas Lubitz, reagierten Nachbarn in Washington mit verständnislosem Kopfschütteln. Was Amerikaner indes immer heftiger umtreibt, ist die Aussicht auf eine Konsumwelt, in der sie zu gläsernen, ausrechenbaren, anhand jeder Kaufentscheidung vermessenen Kunden werden.

Eine Studie der University of Pennsylvania, veröffentlicht Anfang Juni, zeichnete ein Bild, wie es nicht unbedingt zu erwarten war. Ein Bild profunder Skepsis. Denn eigentlich erfreuen sie sich großer Beliebtheit, die personalisierten Empfehlungen, wie sie etwa Online-Handelsriese Amazon bei jeder Gelegenheit gibt.

Selbst Schneier, ein scharfzüngiger, witziger Kämpfer in Sachen Privatsphäre, räumt ein, dass er es mag, wenn ihm hin und wieder ein Tipp ins digitale Postfach flattert. Warnt Google Maps vor aktuellen Verkehrsstörungen auf einer von ihm angegebenen Route, findet er das nützlich, auch wenn es voraussetzt, dass er Google Maps quasi einweiht in seine hochprivaten Streckenpläne.

In jedem größeren Supermarkt schieben einem die Kassierer seit Jahren ganz selbstverständlich einen oder auch mehrere Kupons übers Laufband. Beim nächsten Mal bedeuten sie einen Preisnachlass, wenn man, sagen wir, Haselnusseis oder Erdbeerjoghurt oder Snacks der Sorte Tex-Mex erwirbt. Einen Rabatt auf Haselnusseis, Erdbeerjoghurt und Tex-Mex, jedenfalls auf Waren, bei denen der Supermarktrechner ermittelt hat, dass man sie öfter kauft.

"Just for you"-Liste

Auch nicht mehr ganz neu ist die Rubrik "Just for you": Wer will, kann auf der Supermarkt-Website Posten für Posten eine Liste durchgehen, die ganz individuell auf einen selbst zugeschnitten ist. Sie haben vor drei Wochen bei den Hähnchenschenkeln zugeschlagen? Bitte sehr, wenn Sie wieder welche nehmen, wird es besonders billig für Sie! Kreuzen Sie an! Und beehren Sie uns bald mit Ihrem Besuch! Ein Drittel Discount, ganz individuell, versteht sich, ist durchaus üblich.

So verlockend das klingen mag – Schneier verbindet mit dem Trend ein Szenario, bei dem die Handelsketten die Menschen in Schubladen sortieren. Der Joghurtfreund. Mr. Hähnchen. Mrs. Bailey's. Oder aber, diskriminierender: das Dorf, in dem keiner Geld hat. Die Altenenklave mit Niedrigeinkommen usw.

Aber zurück zur University of Pennsylvania. "Viele Amerikaner halten das Tauschgeschäft – persönliche Daten gegen personalisierte Dienstleistungen oder Schnäppchen – nicht für einen fairen Deal", fassen die Autoren der Studie ihre Erkenntnisse zusammen. Ob es okay sei, dass der Laden, in dem ich shoppe, meine Informationen sammelt, um ein genaueres Konsumentenprofil meiner Person entwickeln zu können, hieß eine Frage. 55 Prozent beantworteten sie mit Nein.

Das größte Risiko für die Unternehmen, der potenziell wichtigste Faktor, um sie zu bremsen, besteht aus Schneiers Sicht in der Gefahr, dass sich Hacker sensibler Kundendaten bemächtigen und die Düpierten mit einer Sammelklage reagieren. Was in Amerika mit exorbitanten Schadensersatzzahlungen enden kann. Dem werde sich die Geschäftswelt irgendwann anpassen, prophezeit er, und nicht mehr wie mit dem Staubsauger aufsaugen, was immer an Daten verfügbar sei. Sein wirksamster Beitrag zum Schutz des Privaten bestehe im Übrigen darin, nicht auf Facebook zu sein. "Das stempelt mich zwar zum komischen Kauz, aber es macht mich auch höchst produktiv." (Frank Herrmann aus Washington, 27.6.2015)