Bild nicht mehr verfügbar.

Der Moment davor: Die Schülerinnen und Schüler der AHS waren die Ersten, die heuer zur neuen "standardisierten kompetenzorientierten Reifeprüfung" antreten mussten. 2016 folgen auch die BHS.

Foto: APA / Georg Hochmuth

Wien – Mit Handykameras abfotografierte Mathe-Beispiele, die via Whatsapp an den Nachhilfelehrer geschickt, gelöst retourniert und in einer Maturaklasse eines Wiener Gymnasiums kollegial geteilt wurden. Ein anderer AHS-Pädagoge, der in Wien bei der Maturaaufsicht hilfreich "abgelenkt" war. Ein netter Junglehrer in Klagenfurt, der einem Schüler nicht nur die Aufgaben, sondern auch die Lösungen zuschob: Bis auf ein paar spezielle "Fehler" dieser Art ging die Premiere der "standardisierten kompetenzorientierten Reifeprüfung" alias Zentralmatura erfolgreich über die Bühne. 20.000 Schülerinnen und Schüler an AHS waren heuer dran, 2016 steigen auch die berufsbildenden höheren Schulen (BHS) ein.

Staunen über Lehrerverfehlungen

DER STANDARD fragte Experten, wie sie den ersten Durchlauf der "Zentralmatura" erlebt haben und wo sie Änderungsbedarf sehen. Für den Sprecher der AHS-Direktorinnen und -Direktoren, Wilhelm Zillner, sind die aufgeflogenen Schummelfälle "eigentlich ein starkes Argument für die Beibehaltung der neuen Reifeprüfung, weil ich frage mich, wie das früher abgelaufen ist", sagt der Leiter des BRG Kirchdorf an der Krems in Oberösterreich: "Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass ein Lehrer das Abfotografieren der Fragen nicht unterbindet."

Um genau solche Fälle, die oft aus dem Naheverhältnis zwischen Lehrern und Schülern resultieren, zu verhindern, fordert Bildungswissenschafter Günter Haider (Uni Salzburg) "externe Aufsicht und Korrektur".

"Die Spitze des Eisbergs"

Im STANDARD-Gespräch betont er: "Zentralmatura-Aufsicht und Korrektur der Prüfungen in der Schule selbst durch eigene Lehrerinnen und Lehrer sind ein Unding. Das muss schnellstens geändert werden. Maturaaufsicht darf nur durch ausgewählte Lehrerinnen und Lehrer anderer Schulen bzw. Fächer erfolgen." Außerdem müsse die Auswertung der Arbeiten "zentral und objektiv erfolgen". Die bekannt gewordenen Fälle – am Militärgymnasium in Wiener Neustadt etwa hat ein Lehrer vier Mathe-Arbeiten ins Positive korrigiert, also manipuliert – sind für Haider "nur die dünne Spitze des Eisbergs". Seine alte Forderung, das Bifie Wien als "Zentralmatura"-Abteilung unmittelbar an das Bildungsministerium anzugliedern, dürfte Realität werden. Bildungsministerin Gabriele Heinisch-Hosek (SPÖ) will Matura wieder in ihr Ressort holen.

Kulturland ohne Literatur

Apropos Durchführung: AHS-Direktorensprecher Zillner, dessen "grundsätzlich positive Einstellung" zur Zentralmatura sich nach der Premiere "verfestigt hat", wünscht sich vor allem, "dass wir das Ganze irgendwann administrativ auf ein vernünftiges Maß bringen". So sei etwa das Prozedere für Kompensationsprüfungen nach einer verpatzten schriftlichen Arbeit "administrativ schon sehr aufwendig". Österreichweit einheitliche Beginnzeiten wären ebenfalls "sinnvoll" und würden das Unternehmen Zentralmatura "noch seriöser" machen.

Inhaltliche Adaptionen wären Zillner vor allem in Deutsch sehr recht: "Ob wir uns als Kulturland die Literatur, gerade im Gymnasium, so wegnehmen lassen sollen, muss man schon hinterfragen." Auch die Fokussierung bei den Fremdsprachen auf Kommunizieren zulasten von Wissensfragen, hält er für hinterfragenswert.

Externe Evaluation notwendig

Aus wissenschaftlicher Sicht unbedingt erforderlich wäre eine externe Evaluation. "Die neue Matura muss im Detail sofort evaluiert werden – und zwar von externen Prüferinnen und Prüfern, nicht vom Bifie selbst, das wäre gegen alle Regeln der Evaluation", verlangt Bildungsforscher Haider.

Das Bifie hingegen müsse auch die einzelnen Zentralmatura-Ergebnisse analysieren dürfen, um die Aufgabenkonstruktion systematisch zu verbessern: "Bloßes Monitoring der Durchfallquoten ist bei diesem enormen Aufwand für die Zentralmatura wissenschaftlich geradezu peinlich."

Achtung vor "teaching to the test"

Bildungspsychologin Christiane Spiel (Uni Wien) spricht sich ebenfalls für eine "differenzierte Evaluation" aus, die den Prozess und das Ergebnis – "wie gut schafft es die teilzentrale Matura, das gewünschte und erwartete Wissen und die entsprechenden Kompetenzen abzubilden" – analysiert. Ein Aspekt, der besonders berücksichtigt werden müsse, sei laut Spiel "die ,klassische Gefahr' zentraler Testungen: teaching to the test", also inwiefern vielleicht zu eng im Sinne reiner Testbezogenheit gelehrt und gelernt werde.

Wider die Pseudoobjektivität

Spiels Kollege Stefan Hopmann möchte überhaupt einen grundlegenden Konstruktionsfehler der "Zentralmatura" beheben und stört sich an der ihr zugeschriebenen "Pseudoobjektivität". Der Bildungswissenschafter rät: "Macht es teilzentral! Die meisten Systeme sind additiv organisiert: Die Zentralmatura ist nur eine Teilleistung, die zur Leistung davor dazugezählt wird."

Stefan Hopmanns Empfehlung: "Macht gern eure zentrale Fingerübung, also den grundlagensichernden Teil zentral für alle einheitlich, und fabriziert den zweiten Teil vor Ort, und beide Teile zusammen machen dann die Hälfte der Note, zu der die mündliche Prüfung kommt." Denn das Interesse des Staates, zu wissen, ob bestimmte Dinge angekommen sind", sei durchaus legitim, "aber man soll auch den lokalen Kontext und die jeweilige Unterrichtskultur berücksichtigen".

Eines bleibe sowieso, sagt Hopmann, ob alte oder neue Matura, zentral oder nicht: "Es gibt kein gerechtes System. Darum darf man nie alles auf eine Karte setzen." (Lisa Nimmervoll, 2.7.2015)