Als wäre gerade Schichtwechsel in einer großen Fabrik. Menschen marschieren zu zweit, zu sechst, zu zehnt die Straße entlang. Viele sind junge Männer. Sie tragen keine Taschen, nur vereinzelt Plastiksackerln. Doch niemand beschleunigt seine Schritte, um einen Bus zu erwischen, rascher nach Hause oder sonst wohin zu gelangen. Die Gruppen – Syrer, Afghanen, Pakistanis, Nigerianer – werden von einem Tor an einer Ausfallstraße der ungarischen Kleinstadt Bicske verschluckt und ausgespuckt. Dahinter liegt das Flüchtlingslager.

Das Flüchtlingslager in Bicske. Derzeit befinden sich statt maximal 500 Personen doppelt so viele Menschen dort. Sie schlafen in Zelten, Gängen und auf der Wiese.
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Die sieben Aufnahmezentren Ungarns, wie jenes in Bicske, platzen derzeit aus allen Nähten. Bis Mai 2015 verzeichnete die EU-Grenzschutzagentur Frontex mehr illegale Grenzübertritte nach Ungarn als nach Italien und Griechenland. Mehr Menschen gelangen inzwischen über die Balkanroute in die EU als über das Mittelmeer. 99 Prozent der Migranten nehmen den Weg über Serbien ins Land, heißt es von der ungarischen Einwanderungsbehörde. Diese zählte 2014 insgesamt 42.777 Asylansuchen. 2015 wurden bereits 65.600 registriert. Nur die wenigsten bleiben: 4500 sind im Land. Bis auf rund 200 leben sie in offenen Lagern, dürfen also die überfüllten Camps tagsüber verlassen.

"Aus technischen Gründen"

Die Regierung reagiert auf den Zustrom mit fragwürdigen Aktionen. So hieß es vor eineinhalb Wochen, Ungarn nehme "aus technischen Gründen" keine Flüchtlinge aus anderen EU-Staaten zurück, obwohl die Dublin-Verordnung das vorsieht. Tags darauf soll dies nur ein "sprachlicher Unfall" gewesen sein. Zufällig genau vor jenem EU-Gipfel, bei dem die Aufteilung von Einwanderern debattiert wurde. Ungarn ist gegen eine Quote. Bei seiner Ankündigung, einen 175 Kilometer langen Zaun an der Grenze zu Serbien aufzustellen, bleibt Regierungschef Viktor Orbán (Fidesz) aber. Der ungarisch-serbischen Grenze widmete sich auch die österreichische Innenministerin, Johanna Mikl-Leitner (ÖVP), diese Woche. Sie kündigte an, für gemischte Grenzpatrouillen in Ungarn und Serbien mehr österreichische Beamte zu entsenden.

Grafik: Michael Bauer

Die 11.000-Einwohner-Stadt Bicske besteht vor allem aus Einfamilienhäusern. Eine gute halbe Stunde braucht die S-Bahn von Budapest hierher. Bürgermeister Károly Pálffy – schwarzer Anzug, cremefarbenes Hemd, ganz auf der Linie des Premiers und Parteikollegen – sitzt an einem ovalen Besprechungstisch im Rathaus. Seine finstere Miene spiegelt sich in der Glasplatte. So viele Flüchtlinge wie jetzt seien noch nie da gewesen, sagt der 35-Jährige. "Die Regierung macht das einzig Mögliche: den Zaun bauen", meint er. Dieser solle jene abfangen, die aus wirtschaftlichen Gründen, nicht aus Not kommen. Die Regierung lässt keine Gelegenheit aus, gegen "illegale Einwanderer" zu kampagnisieren. Etwa warnt sie auf Plakaten – in ungarischer Sprache – Migranten davor, jemandem Arbeit wegzunehmen.

Der Bürgermeister von Bicske, Károly Pálffy, und seine Vizebürgermeisterin, Istvanné Bálint, im Rathaus. Pálffy: "Die Regierung macht das einzig Mögliche: den Zaun bauen."
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In Zelten und Gängen

1000 Personen leben derzeit im Flüchtlingslager von Bicske. Es sollten maximal halb so viele sein. Geschlafen wird in Gängen, Speisesälen, Zelten und auf der Wiese. "Ich bin seit drei Monaten im Lager, aber ich habe noch keinen Raum von innen gesehen", sagt ein junger Afghane, den der STANDARD auf der Straße trifft – eine Erlaubnis, das Camp zu betreten, gab die Asylbehörde nicht. Flüchtlinge sagen, es mangle an Essen und Sauberkeit. In Debrecen soll für rund 1800 teils schwer traumatisierte Personen gerade einmal vier Stunden pro Woche ein Arzt zur Verfügung stehen. Dass nahe der Stadt Szeged ein Flüchtlingslager mit 1000 Plätzen entstehen soll, wird das Überbelegungsproblem nicht lösen.

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Junge Männer gehen ihres Weges in Debrecen. Ähnliche Bilder zeigen sich in Bicske nahe Budapest.
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Mancher Bewohner Bicskes will von Diebstählen in Geschäften gehört haben. Ein Mann macht sich Sorgen um seine Töchter. Im Vorgarten eines Einfamilienhauses, wenige Hausnummern vom Lager entfernt, wiegt eine 41-jährige Frau ihr Baby im Arm. "Es sind viele, aber wirkliche Probleme gibt es nicht", sagt sie. Ihr Mann beschwert sich, die Flüchtlinge würden ihren Müll nicht wegräumen und seine Frau mit dem Kinderwagen oft nicht durchlassen. Mitarbeiter von Hilfsorganisationen beobachten, dass die Solidarität mit Migranten in der Bevölkerung wächst und kleine Hilfsinitiativen entstehen. Zugleich verstärke sich aber die Ablehnung, sagt Julia Iván vom Ungarischen Helsinki-Komitee, einer NGO, die Flüchtlingen in Rechtsbelangen hilft. Sie weiß von Rechtsradikalen zu erzählen, die sich auf Facebook brüsten, zur serbischen Grenze zu fahren, um "für Ordnung" zu sorgen. "Ich fürchte, dass es sich mehr zum Negativen entwickelt", sagt Iván.

Kritischer EU-Bericht

Anfang Juni veröffentlichte die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (Ecri) einen Bericht über die Lage der Flüchtlinge in Ungarn. Zu viele – mehr als jeder Fünfte – würden eingesperrt, hieß es darin. Auch Familien mit Kindern können bis zu 30 Tage angehalten werden.

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Das Lager in Debrecen ist nur teilweise ein offenes Lager, in jenem in Bicske dürfen Flüchtlinge hinein- und hinausgehen.
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Ungarns Umgang mit Flüchtlingen wird in anderen Ländern zunehmend kritisch beurteilt: So lehnten Gerichte in Deutschland und zuletzt auch Österreich einzelne Rückführungen dorthin wegen Sicherheitsbedenken ab. Aus Mikl-Leitners Sicht ist der Nachbarstaat aber weiter ein sicherer Ort für Dublin-Überstellungen. Im Parlament in Ungarn steht unterdessen zur Debatte, Serbien zum sicheren Drittstaat zu erklären.

Anwältin Iván sagt, die Zahl der Inhaftierungen sei seit März, als Ecri-Kommissionen im Land waren, tatsächlich deutlich zurückgegangen. Vor allem Kosovaren, die kaum Chancen auf Asyl hatten, seien eingesperrt worden. Die meisten Einwanderer stammen nach wie vor aus dem Kosovo, doch ihre Anzahl sinkt – während jene der anderen steigt. Die zweitgrößte Gruppe der Ankommenden sind die Afghanen, gefolgt von Syrern, Pakistanis und Irakern.

300 Euro für Kurse, Miete, Essen

Wer bleiben will und Asyl erhält, muss nach Iváns Meinung "extrem tough" sein, mental und physisch in einem guten Zustand. Wenn Eingewanderte dann auf eigenen Beinen stehen sollen, erhalten sie ein halbes Jahr lang 300 Euro im Monat. Davon müssen sie Wohnung, Essen und Sprachkurse finanzieren, bis sie eine Arbeit finden. Nach sechs Monaten sinkt die Höhe des Entgelts, nach zwei Jahren läuft es ganz aus.

Das Gebäude der Immigrationsbehörde in Budapest.

Árpád Szép – rahmenlose Brille, weiß-blau gestreiftes Hemd – leitet das Asylreferat der Immigrationsbehörde in Budapest. Der 36-Jährige gibt zu, dass die Lager zu voll sind. Das sei aber ein relativ neues Phänomen: "Letztes Jahr waren wir immer nur zu 70 bis 80 Prozent ausgelastet." Kritik am Umgang mit Flüchtlingen weist er zurück: "Wer soll die Leute schlecht behandeln? Wachen? Das sind offene Camps. Da gibt es keine Wachen", sagt Szép.

Welche Folgen die Überfüllung haben kann, zeigte sich diese Woche in Debrecen. Im größten Lager des Landes gerieten zwei Männer in Streit. 100 bis mehrere Hundert Flüchtlinge hätten dann ihren Frust entladen, wurde berichtet. Bilder von brennenden Mülltonnen und dutzenden Polizisten in Sicherheitsmontur flimmerten über die Fernseher.

Deutschland "kennt man"

Zwei Afghanen marschieren in Bicske Richtung Flüchtlingslager. Im Hintergrund die katholische Kirche im Sonnenschein.
Foto: Springer

Am schnellsten wieder weg sind Syrer. Viele wollen nach Deutschland. "Das kennt man. Man kennt BMW und Mercedes, es muss also ein sehr schönes, reiches Land sein", sagt die Juristin Iván. Außerdem ist die Aufnahmequote hoch. "Die Menschen sind gut informiert. Wenn sie wissen, dass es ihnen in Österreich oder Deutschland besser gehen wird, werden sie versuchen, dorthin zu kommen."

Ein 27-jähriger Pakistani in Bicske möchte dieser Tage gen Westen aufbrechen. Zwei Jahre Flucht liegen hinter ihm. In der Türkei habe man ihn gut behandelt, in Griechenland "50:50", in Serbien sei überall Mafia. Was er in Deutschland will? "Ein ganz normales Leben." (Gudrun Springer aus Bicske, 4.7.2015)