"Die Anschläge, die wir bisher erlebt haben, waren nur die Vorspeise, um es ironisch auszudrücken. Vor allem die politische Linke scheut jedoch davor zurück, Klartext zu sprechen, weil sie Vorwürfe der Fremdenfeindlichkeit und des Rassismus befürchtet. Wir machen auf diese Weise unsere Kultur kaputt."

Foto: Ofer Chen

STANDARD: Sie haben nach den Anschlägen von Paris mit "Zivilisierte Verachtung" ein Handbuch zur Verteidigung von Freiheit und Demokratie veröffentlicht. Wie ist nun ein halbes Jahr nach dem Anschlag auf die "Charlie Hebdo"-Redaktion Ihr Befund?

Strenger: Die linken und bürgerlichen Parteien müssen den Bürgern das klare Gefühl geben, dass sie den Schutz der Freiheit ernst nehmen, um die Wählerschaft davon abzuhalten, in der extremen Rechten Trost zu finden. Dies ist umso wichtiger, als die Gefahren nur zunehmen. Der islamistische Terrorismus bedeutet weltweit eine Gefahr, Organisationen wie IS und al-Nusra beherrschen immer größere Gebiete. Und eine immer höhere Zahl europäischer Jugendlicher lässt sich von den Radikalen verführen. Viele davon haben europäische Pässe und kommen nach einem Aufenthalt in Syrien oder dem Irak als ausgebildete Terroristen zurück. Die Anschläge, die wir bisher erlebt haben, waren nur die Vorspeise, um es ironisch auszudrücken. Vor allem die politische Linke scheut jedoch davor zurück, Klartext zu sprechen, weil sie Vorwürfe der Fremdenfeindlichkeit und des Rassismus befürchtet. Wir machen auf diese Weise unsere Kultur kaputt.

STANDARD: Wie sollte also der Westen auf die Bedrohungen reagieren?

Strenger: Meine Grundforderung an eine freiheitliche Gesellschaft ist, höchst diszipliniert zu reagieren. Die klaren Worte von Frankreichs Premier Manuel Valls nach den Anschlägen von Paris sind ein gutes Beispiel. Es gibt natürlich viele legitime Fragen, wie mit dem extremen Islamismus umgegangen werden soll, aber man darf dabei auch nicht vergessen, dass der Islamismus nur eine der großen Gefahren für den Westen darstellt. Dazu muss man sich nur die Opfer des Rechtsextremismus vergegenwärtigen, etwa durch die White-Supremacy-Bewegung in den USA oder die Morde Breiviks in Norwegen. Noch wichtiger ist, der rechtsextremen Islamophobie nicht das Diskurs-Diktat zu überlassen: Die heraufbeschworene Gefahr, dass Europa islamisiert würde, ist völliger Quatsch. Die Prognosen sagen, dass sich der muslimische Bevölkerungsanteil von derzeit 4,5 Prozent bis 2035 nur auf rund 8 Prozent verändern wird – wo ist hier die Gefahr der Islamisierung?

STANDARD: Was geschieht, wenn der Westen nicht wieder zu brauchbaren Methoden der Verteidigung seiner Freiheit zurückfindet?

Strenger: Die größte Gefahr sehe ich darin, dass die extreme Rechte den Islamismus als Ausgangspunkt nimmt und eine fremdenfeindliche und rassistische Position gesellschaftsfähig macht. Die Rechten sind überall in Europa auf dem Vormarsch. Ungarn ist de facto keine Demokratie mehr, und Marine Le Pen könnte die übernächsten Präsidentschaftswahlen in Frankreich gewinnen. Man weiß in Europa aus der Geschichte, wohin Rassismus führt. Die Gefahr besteht darin, dass alle Muslime als Terroristen dargestellt werden, um die Einwanderung zu stoppen. Dabei ist die rechte Forderung nach einem Einwanderungsstopp schon aus wirtschaftlichen Gründen verkehrt. Die Bevölkerungszahlen sind in Europa überall rückläufig, und wir brauchen Einwanderung grundsätzlich. Allerdings müssen die Kriterien klar definiert werden.

STANDARD: Wie kann das aussehen?

Strenger: Ein gutes Beispiel ist Kanada: Dort gibt es eine klar strukturierte Einwanderungspolitik auf der Basis, welche Qualifikationen das Land braucht und wie viele Menschen die Gesellschaft integrieren kann. Dabei wird nicht nach Kriterien der Ethnie oder Herkunft vorgegangen, sondern unter anderem die Ausbildung und Sprachkenntnisse der Einwanderer bewertet. Es gibt also Möglichkeiten, Kriterien zu formulieren, ohne rassistische Vorurteile zu schüren.

STANDARD: Zahlreiche Migranten kommen aber als Flüchtlinge nach Europa ...

Strenger: Ich spreche natürlich nicht von Asylwerbern, sondern von Einwanderern, welche ein besseres Leben suchen – was verständlich ist. Europa hat aber auch das Recht zu sagen, dass nur eine gewisse Zahl an Menschen zu integrieren ist, und welche Qualifikationen sie brauchen. Dazu gehört die Einsicht, dass jede Gesellschaft Grenzen hat. Das muss man jedoch klar vom Asylthema trennen.

STANDARD: Was können Gesellschaft und Politik der Strategie der Rechten entgegensetzen?

Strenger: Marine Le Pen hat nur Stunden nach den Anschlägen von Paris die Einführung der Todesstrafe für Terroristen gefordert. Aber was bringt eine Todesstrafe bei Attentätern, die ohnehin den Tod suchen? Das würde sie nicht abschrecken, sondern erst recht in ihrem Handeln bestärken. So eine Forderung ist also rein hetzerischer Rechtspopulismus. Es ist auch die Aufgabe der Medien und Intellektuellen, dagegen immer wieder ganz klar Position zu beziehen. Ich denke, es gibt eine große Zahl von Bürgern mit einer differenzierten Meinung in diesen Fragen. Das Plakat, das mich bei den Solidaritätskundgebungen nach den Terroranschlägen am meisten beeindruckt hat, lautete "JesuisCharlie – JesuisAhmed – JesuisJuif". Das unterstreicht, dass die freiheitliche Ordnung nichts mit ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit zu tun hat. (Michael Vosatka, 12.7.2015)