Der allgemein verurteilte Angriff auf den serbischen Regierungschef Aleksandar Vucic bei der Gedenkfeier zum 20. Jahrestag des Srebrenica-Völkermordes überschattete in der Berichterstattung das Schicksal von 8372 unbewaffneten Männern und Jugendlichen, die 1995 bei sechs Massakern, noch dazu in einer UN-Schutzzone, von serbisch-bosnischen Einheiten ermordet wurden.

Der Name Srebrenica steht für das größte Verbrechen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg, das von dem UN-Kriegsverbrechertribunal als Völkermord eingestuft wurde. Der Name steht aber auch für das Versagen der internationalen Staatengemeinschaft (nicht nur der dort stationierten holländischen Blauhelme), dieses Kriegsverbrechen zu verhindern. Zugleich ist Srebrenica eine Chiffre für die Heuchelei fast aller Politiker des zerfallenen Vielvölkerstaates, ihrer Nachfolger in Bosnien, Serbien und Kroatien und nicht zuletzt auch der damals zuständigen britischen, französischen und russischen Regierungen.

Wohl auch als eine symbolische Wiedergutmachung für das Unvermögen des Westens präsentierte Großbritannien kürzlich eine Resolution im UN- Sicherheitsrat zur Erinnerung und Verurteilung des Völkermordes von Srebrenica. Dem serbischen Wunsch und wohl auch Druck entsprechend, brachte Russland in der Vorwoche die Resolution mit seinem Veto zu Fall. Zehn Mitglieder des Sicherheitsrates stimmten für den britischen Entwurf, vier Vertreter enthielten sich der Stimme. Nur Wladimir Putins Vertreter lehnte es ab, den Völkermord auch Völkermord zu nennen.

Dass Premier Vucic auch nach den Tätlichkeiten bei der Gedenkfeier seine Hand weiterhin "zur Versöhnung reicht", gehört freilich zu den Bemühungen um die Sympathie der EU. Wer kann aber den erbitterten Bosniaken (und Kosovo-Albanern) vorwerfen, dass sie die Drohung desselben Vucic im Belgrader Parlament 1995 ("Man wird für jeden getöteten Serben hundert Muslime töten") ebenso wenig vergessen können wie seine Tätigkeit als Informationsminister für jenen Slobodan Milos evic, der mit seinem großserbischen nationalistischen Kurs die Jugoslawienkriege entfesselt hatte.

Laut Umfragen meinen 70 Prozent der Serben, dass das, was damals in und um Srebrenica geschah, kein Völkermord gewesen ist. Ohne Aufarbeitung der Vergangenheit durch jedes Volk kann es jedoch keine Versöhnung geben. Die zwei Nachfolgestaaten Bosniens – die Serbische Republik und die kroatisch-muslimische bosniakische Föderation – werden von korrupten und nationalistischen Eliten regiert. Der Vorfall bei der Gedenkfeier und die serbischen Reaktionen erinnern daran, was der Schriftsteller Ivo Andric in seinem erschütternden Brief aus dem Jahr 1920 über Bosnien als "Land der Angst und des Hasses" schrieb.

Ein demnächst erscheinendes, fast eintausend Seiten langes Buch des deutschen Journalisten Matthias Fink bekräftigt zwar die Hauptverantwortung der bosnischen Serben für die Tragödie von Srebrenica. Es entlarvt aber auch die Mitschuld und die Heuchelei des muslimisch-bosniakischen Militärs und seiner politischen Führung. (Paul Lendvai, 13.7.2015)