Bert Rebhandl, gebürtiger Oberösterreicher des Jg. 1964, lebt als freier Journalist, Autor und Übersetzer in Berlin. Mitherausgeber der Filmzeitschrift "Cargo". Er schreibt seit 1993 für den STANDARD und für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung".

Foto: R. Schestag

Da müsste es eigentlich doch noch etwas anderes geben: Wenn die EU tragfähige Alternativen zu Internet- und "Social Media "-Molochen wie Facebook oder Google entwickeln würde, käme ihr das auch politisch zugute.Bert Rebhandl

Neulich habe ich einmal nachgeschaut, wie lange ich nun schon auf Facebook bin. Der erste Eintrag datiert aus dem Jahr 2009, eine belanglose Notiz darüber, dass ich damals die Serie Entouragegeschaut habe. In den sechs Jahren seither hat sich eine Menge getan, in der richtigen Welt, aber auch im "sozialen Netzwerk", das sich nach Kräften bemüht, die richtige Welt völlig in sich aufzunehmen. Mein Umgang mit Facebook hat sich in der Zeit markant verändert.

Widerspruch und Dankbarkeit

Ich poste nur noch wenig, Persönliches eigentlich überhaupt nicht mehr. Zugleich bin ich weiterhin dankbar, wenn ich von Freunden Wanderfotos, Hinweise auf entlegene Lektüren, starke Meinungen oder witzige Selbstdarstellungen präsentiert bekomme. Ich befinde mich da also ganz offensichtlich in einem Widerspruch, der aber leicht zu erklären ist: Facebook ist eine großartige Sache, die sich nur leider in den falschen Händen befindet.

Für mich persönlich war der Schlüsselmoment, in dem ich innerlich auf Distanz ging, die Einführung der "Hauptmeldungen", also die Reihung der Nachrichten in der Timeline nach einem Algorithmus, den das Unternehmen errechnet. Ich bekomme nicht mehr automatisch alles zu sehen, was meine digitalen Freunde posten, sondern es wird für mich vorsortiert. Das ist an sich eine naheliegende Idee angesichts des Umstands, dass Facebook alles tut, damit ich so viele Freunde wie möglich, und längst schon zu viele, bekomme.

In einem Netzwerk der Bürger als Modell für künftige Partizipationsformen könnten wir auf zwei oder mehr Weisen vertreten sein: als staatsbürgerliche Subjekte und als Privatleute.Die mächtigen Pioniere, die derzeit die Trends im Netz setzen, denken unverhohlen über ,virtuelle Staatlichkeit' nach und erproben diese Ideen am Beispiel von Minderheiten.
Foto: Fatih Aydogdu


Gründe zur Vorsicht

Den Überblick, den man dabei verliert, schafft dann das Unternehmen. So entsteht ein Freundeskreis zweiter Ordnung, gegen den man die eigene soziale Welt von Hand behaupten muss. Ich muss jedes Mal, wenn ich mich anmelde, die Einstellung "Neueste Meldungen" neu klicken, was mich jedes Mal daran erinnert, dass ich mich in einer Umgebung befinde, in der ich alle Gründe habe, vorsichtig zu sein.

Viele Nutzer empfinden das Unternehmen als latent feindselig, aber es zählt zu den Vorzügen der digitalen Moloche, dass sie Kritik und Widerstand locker zu integrieren vermögen. Wenn irgendwo interessante neue Formen des Austauschs auftauchen wie die Fotoseite Instagram, werden sie kurzerhand eingekauft. Im Übrigen setzen sie auf die Macht schierer Omnipräsenz. Wer sich aus Facebook abmeldet, riskiert die digitale Isolation.

Alternativen

Es ist also hoch an der Zeit, über Alternativen nachzudenken. Doch dazu ist es scheinbar längst zu spät. Mit weit über einer Milliarde Teilnehmern ist Facebook in weiten Teilen der Welt längst alternativlos geworden, ähnlich wie die Suchmaschine Google. Ausnahmen bilden bezeichnenderweise Systeme mit eingeschränkter Freiheit: in erster Linie China, aber auch der Iran. Russland ist ein Sonderfall, weil dort das lokale Netzwerk VKontakte deutlich stärker als Facebook ist, aber das beginnt sich zu ändern, nicht zuletzt, seit VK mehr oder weniger enteignet und nationalisiert wurde.

Privatleute wie der junge Datenschutzaktivist Max Schrems, aber auch die europäischen Behörden setzen sich intensiv mit der Macht von Facebook auseinander. Die traditionellen Medien beobachten mit Argwohn, wie sich das Netzwerk immer stärker zu einem Unternehmen entwickelt, das bald selbst Nachrichten anbieten wird, was wiederum den Charakter von "Nachrichten" deutlich verändern wird.

Zeitgeist

Doch die Idee, dass es zu Facebook nicht nur Alternativen geben müsste, die der Markt schafft, wird kaum einmal ernsthaft erwogen. Sie entspricht einfach nicht dem Zeitgeist, schon gar nicht in einem Europa, in dem der Digitalkommissar das absolut grundlegende Gut der Netzneutralität einfach so mit ein paar Gewinneinbußen der Telekomkonzerne verrechnet. So darf man, wenn man mit Facebook nicht glücklich ist, zu Twitter wechseln, um dort ein leicht anderes Unbehagen zu pflegen. Und man kann resigniert dabei zuschauen, wie hie und da irgendwo jemand etwas probiert: Special-Interest-Netzwerke, Nischencommunitys, erweiterte Chatrooms.

Was aber wäre, wenn wir das soziale Netzwerk einmal anders denken würden als in der Form, in der wir es von Facebook kennen? Nämlich als eine Form, die dem Internet als solchem so brillant entspricht, dass sie mehr oder weniger unausweichlich war? Es gehört ja auch zur Gründungsgeschichte von Facebook, dass die Idee in der Luft lag und dass Mark Zuckerberg einfach das Glück einer günstigen Konstellation hatte. Sein Erfolg hat viel mit der Schwäche der Konkurrenten zu tun, wie man zum Beispiel in John Dwyers Buch More Awesome Than Money nachlesen kann.

Der Journalist der New York Times zeichnet darin das Schicksal von Diaspora nach, jenem dezentralen Netzwerk, das sich vier Studenten in New York 2010 ausgedacht haben, ausdrücklich als Alternative zu Facebook. Sie wollten eine Struktur, in der die Daten bei den Usern liegen würden, vergleichbar den Torrentbörsen, die ohne zentrale Server auskommen. Diaspora sollte auch von den Usern (mit)programmiert werden, ein anspruchsvoller Begriff von Community lag der Sache zugrunde, und ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich damals ein Profil anlegte, aber kaum jemand dorthin folgen wollte.

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Das Internet soll immer und überall sein: Google-Ballon über den Bergen von Neuseeland.
Foto: AP


Zentraler Widerspruch

Woran Diaspora scheiterte, ist letztlich nicht leicht festzumachen: Aber ein zentraler Widerspruch war auf jeden Fall der, dass die vier Gründer zugleich mit "Angel Investors" in Kalifornien sprachen und mit Computernerds in aller Welt. Sie wollten das "next big thing" in Silicon Valley werden, ohne dabei den Kredit der Netzintelligenz zu verspielen. Das konnte auf Dauer nicht gutgehen.

Und am Ende war es wohl doch, neben vielen persönlichen, auch tragischen Umständen, das Geld, an dem Diaspora scheiterte. Zuckerberg war einfach von Beginn an viel professioneller, inzwischen ist der Vorsprung von Facebook nahezu uneinholbar. Mit viralen Spielen wie Farmville werden die Leute bei der Stange gehalten, doch es reicht eigentlich das schiere Quantum der Nutzer.

Wenn man über einen Gegenentwurf nachdenkt, müsste man also ganz anders ansetzen. Nicht auf ein nächstes gigantisch erfolgreiches Start-up setzen, sondern darüber nachdenken, was so ein Netzwerk im idealen Fall eigentlich sein müsste. Dann kommt man sehr schnell auf den Begriff Infrastruktur.

Digitale Infrastruktur

Ein digitales Netzwerk hat im 21. Jahrhundert eine vergleichbare Funktion, wie sie Straßen oder Güterleitungen traditionellerweise haben. Facebook gibt sich ganz bewusst den Anschein, in eine vergleichbare Kategorie zu gehören. Denn es wirbt weiterhin damit, dass die Mitgliedschaft kostenlos ist, ähnlich wie man bei den meisten Straßen keinen Gedanken daran verschwendet, warum man sie einfach so befahren kann.

In beiden Fällen liegt aber ein unterschiedliches Modell zugrunde: in dem einen das von Gemeinschaftsgütern, die durch Abgaben finanziert werden, in dem anderen das eines Unternehmens, das sozialen Austausch für die Optimierung seiner Gewinninteressen vorformatiert.

Kann man sich also ein anderes Facebook vorstellen, ein öffentlich-rechtliches, das den Nutzern gehört? Die Sache wirft viele Fragen auf, aber es lohnt sich, das einmal als Gedankenexperiment durchzuspielen, auch wenn der Zeitgeist eindeutig in eine andere Richtung läuft und gerade das Beispiel Griechenland zeigt, dass es um die Gemeingüter in Europa schlecht bestellt ist. Wie sollte es also bei einem sein, das es noch gar nicht gibt?

Experiment

Ich stelle mir diesen Gegenentwurf im Ansatz als ein Intranet der Bürgerinnen und Bürger vor. Der ideale Raum dafür wäre die Europäische Union, eine Gemeinschaft mit über 500 Millionen Menschen, die sich als Verbindung demokratischer Staaten versteht und die mit so einem digitalen Netzwerk auch Modelle für künftige Partizipationsformen erproben könnte.

Ein Netzwerk, in dem wir vielleicht auf zwei oder mehr Weisen vertreten sein könnten: als staatsbürgerliche Subjekte und als Privatleute. Es müsste also vermutlich zwei oder mehr Ebenen haben, es müsste einerseits auf Kontakt mit Behörden und Instanzen hin gedacht werden (also auf Vereinfachung von Verwaltung), auch auf neue Formen der politischen Entscheidungsfindung, andererseits auf persönliche Vernetzung sogar über den europäischen Raum hinaus, denn ein Netzwerk dieser Form macht für Individuen nur Sinn, wenn es global offen ist.

Die mächtigen Pioniere, die derzeit die Trends im Netz setzen, denken unverhohlen schon über "virtuelle Staatlichkeit" nach, erproben diese Ideen aber vor allem an Beispielen von Minderheiten. Eric Schmidt und Jared Cohen von Google beschreiben in ihrem Buch über Das neue digitale Zeitalter, wie sich das kurdische Volk, das auf mehrere Staaten verstreut lebt, zu einer Form von digitalem Quasistaat zusammenschließen könnte, ein "Kurdish web", das einer virtuellen Unabhängigkeitserklärung gleichkäme. Die Server müssten in einem neutralen oder befreundeten Land stehen. "Dann kann man darauf aufbauen."

Partikulare Kriterien

Diese Idee geht in eine Richtung, die auch Staaten wie der Iran mit einem "halal net" verfolgen, nämlich (Intra-)Netzwerke nach partikularen Kriterien zu entwickeln. Die Vordenker von Google und anderen digitalen Trusts verfolgen das mit größtem Interesse, weil sie alles dafür tun werden, um aus diesen Netzwerken nicht ausgeschlossen zu werden.

Ein europäisches Intranet der Bürger wäre im Vergleich dazu in zweifacher Hinsicht revolutionär anders: Es hätte als Raison d'Être gerade kein partikulares Projekt, sondern wäre so zu denken, dass es als Fortsetzung des universalistischen Ansatzes der Aufklärung funktionieren könnte; und es bekäme im Gelingensfall auch Modellcharakter für eine neue Verhältnisbestimmung zwischen Staatlichkeit und Privatsphäre unter den völlig veränderten Bedingungen des digitalen Zeitalters.

Entsprechend utopisch muss sich das alles anhören. Und es ist unumgänglich, sich noch einige praktische Fragen zumindest im Ansatz zu stellen. Die erste betrifft natürlich den ganzen Bereich der Datensicherheit. Macht es wirklich Sinn, sich eine konkret dann ja doch ziemlich gigantische digitale Infrastruktur zu wünschen, die im Falle einer ungünstigen politischen Entwicklung jederzeit zu einem Einfallstor für Überwachung und Repression zu werden droht? Darauf gibt es eine einfache Antwort: Alle diese Probleme sind längst gegeben, und es macht viel mehr Sinn, überhaupt einmal eine Struktur zu schaffen, die als digitaler Freiraum dann zu verteidigen wäre (mit allem, was an Kompetenzen dafür erst noch zu entwickeln ist), als von vornherein alles an die Konzerne auszuliefern.

In Zeiten, in denen eine Kanzlerin abgehört wird und in denen ein Bundestag gehackt wird, würde es keinesfalls schaden, hätte Europa ein digitales Instrument, das zugleich politisch wie technisch als permanentes Experiment liefe, in dem ich aber auch wieder gern meine Urlaubsfotos zeigen würde.

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Bei sozialen Medien regiert Facebook – warum sollte die EU nicht auch einschlägigen Ehrgeiz zeigen?
Foto: Reuters


Bürokratische Angelegenheit

Die nächste Frage muss nur auf den ersten Blick skeptisch stimmen: Wer soll das bezahlen? Die EU versteht sich in erster Linie als marktliberal, hat de facto aber durchaus starke planwirtschaftliche Facetten. Nur dort, wo es derzeit wirklich darauf ankommt, versagt sie vollkommen, wie das Beispiel Desertec zeigt.

Stellen wir uns einmal vor, das Europäische Parlament würde eine Rechtsform entwickeln, unter der dieses Intranet der Bürger laufen könnte. Und dann Gelder dafür bereitstellen. Anfangs würden vermutlich Summen reichen, die bei einem Projekt wie Airbus in ein paar Jahren an Redundanzkosten auflaufen. Und von Beginn an könnten interessante Ideen dazu in Kontakt gebracht werden. Denkbar wäre zum Beispiel, die erforderlichen Serverkapazitäten so zu gestalten, dass sie mit der Dezentralisierung der Stromwirtschaft zusammengedacht werden, in der viele Experten die Zukunft der Energiewende sehen. Das Intranet der Bürger könnte sogar dazu beitragen, ein fundamentales Problem zu beheben: dass nämlich, der Eindruck drängt sich auf, ein Gutteil der massiv vorhandenen gesellschaftlichen Intelligenz nicht in der Politik ankommt.

Und so wird es wohl auch bleiben. Selbst wenn es eines Tages so etwas wie eine digitale Infrastruktur für Bürgerinnen und Bürger der EU geben sollte, ist damit zu rechnen, dass es sich um eine bürokratische Angelegenheit handeln wird, nicht zu vergleichen mit der Attraktivität, die Facebook oder zu einem geringeren Teil auch Twitter ausüben. Die Sache würde aber nur dann Sinn machen, wenn sie als digitaler Lebensraum angenommen wird. Da stellen sich elementare Vertrauensfragen gegenüber den staatlichen und überstaatlichen Zusammenhängen, in denen wir leben. Vertrauensfragen, die sich bezeichnenderweise gegenüber den Geräte- und Applikationslieferanten nicht in demselben Ausmaß oder nur bei bestimmten Gruppen in der Gesellschaft stellen.

"Digitales Asyl"

Dieser Umstand macht klar, dass die Konzeption und Realisierung eines Intranets der Bürger ein demokratiepolitisches Experiment ersten Ranges wäre. Es könnte Europa aus seiner Legitimationskrise heraushelfen, es wäre ein Integrationsfaktor, und es würde, weil es ja auf der persönlichen Ebene nach außen hin offen wäre, den Modellcharakter der demokratischen Versuche auf dem "alten" Kontinent einmal anders als mit Frontex und anderen Abschottungsstrategien sichtbar machen.

Schmidt und Cohen schreiben in ihrem Buch beiläufig auch von einem Konzept "digitalen Asyls". Regimekritiker und Oppositionelle in unfreien Systemen könnten auf diese Weise in den liberalen Ländern digital unterkommen. Auch daraufhin wäre so ein Intranet der Bürger zu denken, das de facto damit zugleich ein Internet der freien Welt würde.

Während des Arabischen Frühlings war viel davon die Rede, dass Facebook und Twitter die Medien der Aufstände waren. Das war gute Propaganda für die Informationskonzerne, kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Freiheit, auch nur der Information, nicht deren Unternehmensziel ist. Es wird nie so sein. Deswegen wären wir gut beraten, auch wenn es auf den ersten Blick defensiv anmuten mag, die entsprechenden Strukturen doch auf einer Ebene zu suchen, die für Europa konstitutiv ist: in einer demokratischen Öffentlichkeit, die dem Gemeinwesen etwas zutraut und zumutet. Attraktiv wäre das dann ebenso, allerdings anders als Farmville.

Den Überblick, den man verliert, schafft das Unternehmen. So entsteht ein Freundeskreis zweiter Ordnung, gegen den man die eigene soziale Welt von Hand behaupten muss.

Ein Gedankenexperiment, das sich durchaus lohnen würde: Mehr Grips anwenden bei der globalen Vernetzung! (Bert Rebhandl, 18.07.2015)