Obdachlosigkeit ist ein gesellschaftliches und kein individuelles Phänomen. Zusammenhänge mit der aktuellen Flüchtlingskrise gibt es nicht.

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Wer in den vergangenen Tagen Postings zur Berichterstattung rund um das Thema Asyl und Flüchtlinge in Österreich beobachtet hat, wird Augenzeuge oder Augenzeugin eines erstaunlichen Phänomens geworden sein: Die Shitstorms unterschiedlicher Windstärken gegen Flüchtlinge vermengen sich mit "Solidarity-Storms" für österreichische Obdachlose zu haarsträubenden Argumentationswirbelwinden.

Wenn eine Freiwillige Feuerwehr in Oberösterreich Flüchtlingen Abkühlung verschafft, folgt zugleich die Empörung: "Und wer kühlt die Obdachlosen ab?" Und wenn in Traiskirchen Zelte für jene Flüchtlinge aufgestellt werden, die keinen Platz in einem Zimmer ergattern konnten, wird lautstark gefragt: "Und wer kümmert sich um die Obdachlosen in den Parks?" Ja selbst wenn aufgerufen wird, Fahrscheine für öffentliche Verkehrsmittel zu spenden, damit ein wenig Abwechslung in die unfreiwillige "freie" Zeit der Flüchtlinge kommen kann, taucht die Frage auf: "Und unsere Obdachlosen müssen zu Fuß gehen?"

Welche Obdachlosen?

Beim Lesen solcher Postings stellt sich die Frage, wer denn nun diese – "unsere" – Obdachlosen sind? Sind das etwa jene, denen beim Bezug der Mindestsicherung grundsätzlich unterstellt wird, dass sie in der sozialen Hängematte faulenzen und bei denen jeder vom Staat finanzierte Euro dazu führt, dass die Arbeitsbereitschaft immer mehr sinkt? Sind das jene undankbaren und unveränderbaren Geister, denen nachgesagt wird, dass sie aufgrund ihrer psychischen Erkrankungen oder aufgrund ihres frei gewählten Lebensstils ohnehin keine Hilfe annehmen können oder wollen?

Sind das jene, die aus den Parks und Fußgängerzonen vertrieben werden müssen, weil sie eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit sowie das leibliche und seelische Wohl der besorgten Bevölkerung darstellen? Sind das etwa jene, um die wir einen großen Bogen machen, weil sie stinken, schnorren und saufen? Oder gar jene, die illegale Substanzen konsumieren und eh selbst schuld an ihrer Lebenslage sind, weil jeder Sucht zunächst eine freie Entscheidung zugrunde liegt?

Kein Zusammenhang

Von diesen Obdachlosen liest man seit dem Aufkommen der Flüchtlingsdiskussion plötzlich nichts mehr. Man könnte fast meinen, die eifrigen Posterinnen und Poster in den Onlineforen hätten plötzlich erkannt, dass Obdachlosigkeit ein gesellschaftliches und kein individuelles Phänomen ist, und dass die häufigsten Ursachen nicht in den Verfehlungen der Betroffenen zu suchen sind.

Als wäre nun klar, dass die vorhandenen Hilfestrukturen zum einen nicht ausreichen und zum anderen nicht alle Menschen erreichen. Als wäre die lange gesuchte Lösung nun endlich gefunden – nämlich, dass es eine breite gesellschaftliche Solidarität und größeren politischen Willen braucht, um Obdachlosigkeit zu vermeiden oder zu überwinden. Als wäre im Parlament bereits über die Verabschiedung eines Gesetzes zur Beendigung von Obdachlosigkeit verhandelt worden und dieses Thema ganz plötzlich von der "Flüchtlingskrise" von der Tagesordnung verdrängt worden. Wer würde da nicht verstehen, dass die ehrlich engagierten, aber durch die letzten Hundstage aufgeheizten Gemüter nun ein Ventil für ihren Frust brauchen?

Allein: Es fehlt der Glaube daran. Und es fehlt der Zusammenhang.

Es gibt keinen Zusammenhang zwischen vermeintlich überversorgten Flüchtlingen und unterversorgten Obdachlosen, es gibt aber einen Zusammenhang zwischen unserer politischen Kultur und solchen Diskursen.

Gegeneinander Ausspielen an der Tagesordnung

Während auf wirtschaftspolitischer Ebene die Milliarden für Systeme fließen, die "too big to fail" sind, wird bei sozialpolitischen Agenden auf die Verknappung finanzieller Ressourcen hingewiesen. Und während auf nationaler und internationaler Ebene Politik gemacht wird, die Armut produziert, wird auf nationaler Ebene politisches Kleingeld daraus geschlagen. Die äußerst heterogenen, armutsbetroffenen Bevölkerungsgruppen werden zu Bedroherinnen und Bedrohern des Systems hochstilisiert, die aufgrund ihrer Faulheit, ihrer Unfähigkeit oder ihrer Herkunft jenen Kuchen essen, den die Fleißigen und Tüchtigen täglich backen. Dadurch werden die Gesellschaft als Ganzes und besonders schutzbedürftige Teile der Bevölkerung gegeneinander ausgespielt und jegliche Solidarität verhindert.

Die Bedrohungsszenarien erscheinen aufgrund der Alltagsnähe und der einfachen Bilder – der Flüchtling mit dem Smartphone, die Frau mit Kopftuch im Gemeindebau, der Obdachlose mit der Wodkaflasche – so realistisch und greifbar, dass man sich gegen den Nächstschwächeren abgrenzen und verteidigen muss. So sind es je nach aktueller politischer Agenda die faulen Arbeitslosen, vor denen sich der Mittelstand retten muss, oder aktuell eben die Obdachlosen, die durch die Flüchtlinge ins Hintertreffen geraten.

Viel weniger offensichtlich und greifbar hingegen erscheinen jene internationalen politischen Prozesse, die für die Verknappung der finanziellen Ressourcen verantwortlich sind – und dementsprechend werden sie auch außen vor gelassen. Während die einen also "too big to fail" sind, bleiben die anderen "too divided to protest". (Christian Zahrhuber, 27.7.2015)