Moskau Ein Schritt vor und zwei zurück. Um die Erschießung des Oppositionspolitikers Boris Nemzow aufzuklären, rollen die Fahnder einen anderen Mord auf. Dadurch rücken ranghohe tschetschenische Politiker in den Fokus.

Offiziell gibt es seit Monaten kaum Bewegung in den Nemzow-Ermittlungen. Eine Woche nach der Ermordung des 55-Jährigen vor der Kremlmauer am 27. Februar präsentierten die Behörden bereits die unmittelbaren Tatverdächtigen. Die Suche nach den Hintermännern läuft jedoch weitaus zäher, auch das Motiv ist offenbar nicht mehr aktuell.

Zunächst hieß es, die Tat sei religiös motiviert gewesen und stehe in Zusammenhang mit dem Anschlag auf das französische Satiremagazin "Charlie Hebdo", den Nemzow als "islamische Inquisition" gegeißelt hatte. Zwar wurde die Version trotz der Indizien für eine Beschattung bereits vor dem Anschlag auf "Charlie Hebdo" noch nicht fallengelassen, doch gehen die Ermittler inzwischen auch einer anderen heißen Spur nach.

Suche nach Offizier

Diese Spur führt zu den Sicherheitsorganen in Tschetschenien, von denen auch mehrere der Verhafteten stammen. Seit Wochen schon suchen die Behörden nach einem Offizier des tschetschenischen Sonderbataillons "Nord" namens Ruslan Geremejew – ob als Zeuge oder Verdächtiger ließen sie dabei offen. Geremejew ist in jedem Fall schon mal abgetaucht und hat sich inoffiziellen Angaben zufolge über Tschetschenien ins Ausland abgesetzt.

Tschetschenchef Ramsan Kadyrow stellte Geremejew noch im Juni einen Persilschein für den Mordfall aus: "Dass er unbeteiligt daran ist, wissen alle", sagte er. Doch die Ermittler blieben trotz der Fürsprache Kadyrows und dessen Widerstand gegen die Untersuchungen hartnäckig und sammelten nach Medienangaben sogar belastendes Material gegen dessen unmittelbare Umgebung.

Zunächst einmal gehört Geremejews Onkel, Sulejman Geremejew, dazu, der für Tschetschenien als Senator im russischen Föderationsrat (Oberhaus des Parlaments) sitzt. Daneben ist aber auch Kadyrows rechte Hand, sein Cousin und Duma-Abgeordneter Adam Delimchanow, in den Fokus der Ermittler gerückt, berichtet die Nachrichtenagentur Rosbalt.

Fall Jamadajew

Demnach haben die Untersuchungsbeamten die Ermordung eines anderen Kadyrow-Feinds wieder aufgerollt: 2008 wurde in Moskau der Ex-Duma-Abgeordnete Ruslan Jamadajew erschossen. Jamadajew war zu jener Zeit Kopf eines mächtigen tschetschenischen Clans, der mit jenem Kadyrows um die Macht in der russischen Kaukasusrepublik kämpfte.

Die Mörder Jamadajews wurden ein Jahr später deswegen und wegen eines weiteren Mordversuchs an einem Bankier, der sich geweigert hatte, Schutzgeld zu zahlen, verurteilt. Die Hintermänner blieben jedoch im Dunkeln.

Nun haben die Ermittler die beiden Fälle noch einmal aufgerollt. Während die Befragung der Verurteilten dem Vernehmen nach ergebnislos blieb, hatten die Moskauer Fahnder mit dem Verhör eines unter Betrugsverdacht geratenen Kadyrow-nahen Bankiers mehr Glück. Dieser belastete laut einem Informanten sowohl Sulejman Geremejew als auch Delimchanow.

Verdächtige Zufälle

Laut der Nachrichtenagentur Rosbalt gibt es einige Parallelen in den Fällen: So soll sich der im Mordfall Nemzow gesuchte Ruslan Geremejew mit dem gleichen hochstehenden Beamten des tschetschenischen Innenministeriums getroffen haben, mit dem sich einer der Mörder Jamadajews vor dessen Erschießung traf.

Ob die Ausweitung der Ermittlungen tatsächlich auf die engsten Gefolgsleute Kadyrows zielt, ist unklar. Möglich ist auch, dass die Moskauer Polizei einfach ein Druckmittel gegen den mächtigen Kadyrow haben will, um die Suche nach dem möglichen Mittelsmann im Mordfall Nemzow nicht weiter zu behindern. (André Ballin, 28.7.2015)