Die Istanbul-Konvention legt gemeinsame Mindeststandards fest. Zum Beispiel, dass Opfer von Gewalt in Einrichtungen flüchten können, die Schutz bieten.

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Die Wiener Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie, die Rosa Logar seit 1997 leitet, behandelt im Jahr rund 6.000 Fälle.

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STANDARD: Sie wurden im Mai in die ExpertInnen-Gruppe des Europarates zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt gewählt. Was tun Sie in dieser Funktion?

Logar: Die Istanbul-Konvention ist ein rechtlich bindendes Instrument für die Staaten, die sie ratifiziert haben. Auch Österreich hat sich verpflichtet, die Konvention umzusetzen und den Europarat über die Umsetzung zu informieren. Das Komitee hat die Aufgabe, das zu überwachen. Eine Konvention wird aber nicht nur durch Überwachung umgesetzt, sondern vor allem durch den Willen des Landes. Meine Rolle ist, meine Expertise einzubringen und mit Staaten fachlich in Dialog zu treten. Gewalt an Frauen und häusliche Gewalt sind gravierende Probleme in Europa. Es kommen so viele Menschen zu Schaden, deshalb müssen wir im Gewaltschutz noch viel besser werden.

STANDARD: Wo gibt es noch Probleme?

Logar: Wir haben schon viel Wissen angesammelt und kennen auch die Methoden – doch das Problem ist die Anwendung. In Österreich sind wir zwar in vielem Vorbild – etwa bei der Prozessbegleitung oder bei der polizeilichen Wegweisung. Aber ein großes Problem ist, dass sehr gefährliche Täter regelmäßig unterschätzt werden. Auch der Amokläufer in Graz wurde unterschätzt, der sich schon im Vorfeld sehr aggressiv gezeigt hat.

STANDARD: Sehen Sie strukturelle Mängel, oder ist so etwas enorm schwer einzuschätzen?

Logar: Ich sehe das schon als strukturellen Mangel. Es ist in Österreich noch nicht gelungen, die Strafjustiz ins Boot zu holen. Es wurden zwar wichtige Schritte gesetzt, so gibt es bei größeren Staatsanwaltschaften etwa eine Sonderzuständigkeit für Gewalt im sozialen Nahraum. Aber das hat sich noch nicht gut entwickelt. Ein Knackpunkt ist: Die Entscheidung, ob jemand in Haft genommen werden muss oder nicht, wird manchmal auf Basis von zu wenigen Fakten entschieden.

Und es gibt bei Gewalt in der Familie die Tendenz, auf freiem Fuß anzuzeigen. Und das kann sehr gefährlich sein. Es passieren sehr viele Morde in der Familie, nachdem schon mit dem Umbringen gedroht und nur auf freiem Fuße angezeigt wurde. Gewalt in der Familie wird noch immer unterschätzt, das ist nicht nur in Österreich so.

STANDARD: Welche Maßnahmen schlagen Sie vor?

Logar: Die Staatsanwaltschaft entscheidet, ob sie einen Haftantrag gegen eine gewalttätige Person einbringt oder nicht. Und die RichterInnen entscheiden, ob diesem Antrag stattgegeben wird. Uns macht große Sorgen, dass das sehr oft am Telefon abgehandelt wird – die Staatsanwaltschaft müsste viel aktiver involviert sein, Fachleute sollten miteinbezogen werden, auch um alle Gefährlichkeitsfaktoren und die Vorgeschichte genau zu erheben. Im Nachhinein sieht man dann oft, welche Anzeichen es schon gegeben hat – wir müssen diese aber schon im Vorhinein sehen, bevor Gewalttaten passieren.

STANDARD: Das klingt nach umfangreichen Erhebungen.

Logar: Die Staatsanwaltschaft ist Herr des Verfahrens – sie könnte umfassende Ermittlungen in Auftrag geben. Die Bewährungshilfe oder auch wir als Opferschutzeinrichtung könnten bei den Erhebungen mithelfen und Gefährlichkeitsfaktoren analysieren, um so zu einer guten Entscheidung zu kommen und Eskalationen zu verhindern. Wir haben das Know-how, aber die Zusammenarbeit in der akuten Situation klappt nicht gut. Und: Die Justiz braucht Schulung und auch ausreichend Ressourcen, und die hat sie im Moment offenbar nicht.

STANDARD: Die Grünen haben kürzlich kritisiert, dass zu häuslicher Gewalt keine Daten zu den Geschlechter- und Verwandtschaftsverhältnissen vorliegen. Was würden die nützen?

Logar: Prävention heißt, dass man weiß, wie sich das Problem gestaltet. Und zu einer professionellen und effektiven Gewaltprävention gehören adäquate Daten. In der Istanbul-Konvention wird das auch explizit gefordert. Das Paradoxe ist: Es werden zwar sehr viele Daten erhoben, denn jeder Polizist muss sofort alles aufschreiben. Allerdings wird dieses Wissen nicht so aufbereitet, dass es statistisch verwertbar ist. In Zeiten elektronischer Datenerfassung ist das Argument, gewisse Daten nicht zu haben, einfach nicht mehr adäquat. Mit welchen Problemlagen haben wir es zu tun? Welche Fälle werden überwiegend verurteilt, welche nicht? Es gibt keine Ausreden dafür, dass man über diese Dinge nicht Bescheid weiß.

STANDARD: Die Reform des Sexualstrafrechts musste auch schon vor dem Hintergrund der Istanbul-Konvention passieren?

Logar: Ja, die Erfordernisse der Istanbul-Konvention sind eingeflossen, und wir müssen schauen, ob das ausreicht. Die Reform sehe ich insgesamt als sehr positiv, auch wenn nicht alles gelungen ist und man gesehen hat, dass es für viele nicht selbstverständlich ist, dass sexuelle Übergriffe strafbar sein müssen. Aber es geht schrittweise.

STANDARD: Die Konvention hat auch Erschwernisgründe festgelegt, etwa Gewalt im Beisein von Kindern. Was braucht es für einen besseren Schutz von Kindern?

Logar: Die Anerkennung des Leids von Kindern, wenn sie Gewalt miterleben oder wenn sie Gewalt trifft, ist sehr wichtig. Die Konvention schreibt die Betreuung und Beratung der Kinder vor. Unsere 20 BeraterInnen in der Interventionsstelle haben mit 6.000 Fällen im Jahr zu tun, die Kinder mitzubetreuen ist da nicht möglich. Daher wollen wir auch das Familienministerium ins Boot holen. Gewaltschutzmaßnahmen finanzieren derzeit das Innenministerium, das Frauenministerium und das Justizministerium, unterstützt von der Prozessbegleitung. Wir möchten nun versuchen, auch das Familienministerium für eine Unterstützung zu gewinnen.

STANDARD: Was ist mit dem Jugendamt?

Logar: Das Jugendamt macht keine Betreuung, sondern eine Gefahrenabklärung. Das ist wichtig, aber es braucht auch Menschen, die den Kindern zur Seite stehen. Kinder müssten parallel zu ihren Müttern – oder in seltenen Fällen sind es Väter – beraten werden. Wenn man den Kindern hilft, kann man auch den Kreislauf der Gewalt durchbrechen. Denn Kinder, die solche Erlebnisse nicht verarbeiten können, laufen Gefahr, später selbst Täter oder Opfer zu werden.

Dieser Hilfe stellt sich derzeit aber die Aufsplitterung der verschiedenen Stellen entgegen: Die Frau kommt zu uns in die Interventionsstelle, sie muss zur Polizei, zum Amtsarzt, will sie eine gerichtliche Verfügung, muss sie zu Gericht. Die Konvention besagt aber auch, dass die Hilfe an einem Ort und familienfreundlich stattfinden sollte.

STANDARD: Oft wird das Thema Gewalt gegen Frauen damit kommentiert, dass Gewalt gegen Männer ausgeblendet wird. Verkennen wir dieses Problem?

Logar: Es ist nicht legitim, Gewalt gegeneinander aufzuwiegen. Ich bin gegen jede Gewalt in der Gesellschaft, und insofern muss und soll man sich ansehen, wo Männer Gewalt erleben. Männer erleben Gewalt etwa öfter im öffentlichen Raum. Es ist ein anderes Gewaltphänomen, das extra erforscht werden muss.

Viele Fakten sprechen dafür, dass es ein hohes Ausmaß von Gewalt gegenüber Mädchen und Frauen gibt. Ich will, dass das respektiert wird. Aber ich finde es auch wichtig, dass Gefährder nicht nur sanktioniert werden, sondern dass es auch Hilfe für sie gibt.

STANDARD: Was sollte die Istanbul-Konvention künftig bewirken?

Logar: Es sind viele Länder dabei, die sich in völlig unterschiedlichen Situationen befinden – vom Kaukasus über Skandinavien bis nach Südeuropa. Daher wünsche ich mir – wie in der Konvention vorgesehen – gemeinsame Mindeststandards. Zentral ist, dass die Opfer nicht ohne Hilfe bleiben – es gibt Länder, da können die Opfer nirgends hinflüchten. Und mein zweiter Wunsch ist, dass von allen in der Gesellschaft – auch von allen Institutionen – die Gefahren ernst genommen werden. (Beate Hausbichler, 30.7.2015)