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Patrick Modiano umkreist das Vermächtnis der Erinnerung.

Foto: APA/EPA/LANGSDON

Wien – Ältere Menschen erzählen gelegentlich, dass ihnen plötzlich Dinge wieder einfallen, die sie längst vergessen wähnten. Die Tiefen des Lebens kommen einem gegen Ende wieder trügerisch nahe, so schließen sich Kreise, von denen niemand sagen kann, ob sie jemals gezogen wurden. Von dieser Spannung ist ganz wesentlich auch der jüngste Roman von Patrick Modiano bestimmt. Pour que tu ne te perdes dans le quartier lag 2014 auf Französisch gerade neu vor, als die Nobelpreis-Entscheidung bekanntgegeben wurde. Nun kann man den Text pünktlich zum 70. Geburtstag von Modiano auf Deutsch lesen, übersetzt wie so häufig von Elisabeth Edl, die schon beim Motto auf eine ihrer großen Beschäftigungen trifft. Denn Modiano stellt ein Zitat von Stendhal voran: "Ich kann die Wirklichkeit des Geschehenen nicht darstellen, ich kann nur seinen Schatten zeigen."

Literatur als Schattenwurf einer Wirklichkeit, die sich in das Vergessen entzieht und Gespenster hinterlässt – das ist eine probate Kurzfassung des reifen Modiano, der hier einmal mehr eine Kunst des Ephemeren vervollkommnet, hinter der mehr denn je konkreter Schmerz erspürbar ist. Damit du dich im Viertel nicht verirrst erzählt von einem Jean Daragane, der sich weit aus der Welt zurückgezogen hat und in einer Weißbuche vor seinem Fenster die beste Gesellschaft gefunden hat.

Ein Koffer, zu dem der Schlüssel verloren ist, ein Polizeiakt, in dem Namen auftauchen, die Erinnerungsschichten öffnen, eine Frau, die ihren Vornamen gewechselt hat – mit jedem neuen Kapitel entfernt sich Daragane weiter von dem einen Text, der durch dieses Buch geistert (eine Abhandlung Über das Vergessen), und findet hin zu einer Funktion von Literatur als Botschaft an sich selbst. "Dieses Kind, von so vielen Jahrzehnten in so graue Ferne gerückt, dass ein Fremder aus ihm wurde, nun musste er sich's eingestehen, das war er."

So fügen sich allmählich "Bruchstücke von zwei verschiedenen Ermittlungen" zusammen, einer vorgeblich kriminalistischen und einer autobiographischen, wobei Modiano kunstvoll mit zentralen Motiven von Proust spielt – von dem er sich dabei diskret absetzt, denn bei ihm gibt es eben keine reine epische Gegenwart, nur eine konstitutiv entrückte Vergangenheit, aus der schwereloses Material auftaucht.

Dieses Material sind hier vor allem Namen, deren Zauber sich allmählich herauskristallisiert: Guy Torstel, das klingt zuerst nach einer Nebenfigur in einem billigen Krimi, und Annie Astrand ("Anniastrand") ist als Pseudonym einer Lebedame plausibler denn als ein Name, der die familiäre Herkunft bezeichnen könnte. "Ich hätte mich früher bei dir melden sollen, aber ich habe ein etwas bewegtes Leben geführt ...", sagt diese Annie, und der Erzähler fügt an: "Sie hatte das Perfekt gebraucht, als sei ihr Leben zu Ende."

Das Leben ist nicht zu Ende, aber es erfüllt sich auch nicht. Modiano könnte seinen 70. Geburtstag in dem Bewusstsein feiern, dass er schon sehr viel kostbares Material auf die andere Seite der Erinnerungsschwelle gerettet hat. (Bert Rebhandl, 30.7.2015)