Bild nicht mehr verfügbar.

Franz Welser-Möst: "Wenn ich merke, der Regisseur fängt an, musikalisch zu denken, und ich denke in der Szene mit, dann passiert tatsächlich das Wunder Oper. Das merkt dann auch das Publikum."

Foto: APA/BARBARA GINDL

STANDARD: Sie dirigieren bei den Festspielen zwei Opern, Konzerte – Alexander Pereira haben Sie vor zwei Jahren noch einen Korb gegeben und gesagt, man könne gar nicht so viel dirigieren, wie er wolle. Warum der Sinneswandel?

Franz Welser-Möst: (lacht) Pereira ist der Weltmeister des Übermaßes. Ich habe ihm einen Korb gegeben, weil ich fand, seine Planung sei künstlerisch nicht vertretbar – und zwar nicht meinetwegen, sondern wegen der Sänger. Die menschliche Stimme ist ein fragiles Instrument. Gerade bei einem Festival sollten die Bedingungen so sein, dass man wirklich etwas Besonderes kreieren kann.

STANDARD: Sie haben von farblichen Räumen bei "Fidelio" gesprochen. Was verstehen Sie darunter?

Welser-Möst: Die Oper wurde in einer Zeit geschrieben, wo die verschiedenen Tonarten noch sehr stark ihre Farben beibehalten haben. Wobei, Fidelio ist ja ein eigenartiges Ding, manche sagen, der erste Teil sei kleinbürgerlich, der zweite großes Drama. Ich nenne es Musik mit einer Handlung.

STANDARD: Ist das nicht jede Oper?

Welser-Möst: Nein. Es gibt oft auch Handlung mit Musik. Aber Fidelio ist eine philosophische Utopie, Beethovens Musik macht das emotional erfahrbar. Ich habe mit Regisseur Claus Guth viel darüber gesprochen, wie man diese Utopie auf die Bühne bringt. Denn eine Bühne hat ja automatisch einen realistischen Touch, man kann sie sehen, angreifen. Dieser Feuerkopf Beethoven, der im Finale alles niederreißt: Das ist ja kein Jahrmarkts- oder Meistersinger-Festwiesenjubel. Das Stück abzuklopfen auf den nichtrealistischen Inhalt, das ist das Spannende an unserer Arbeit.

STANDARD: Welche Vision hatte Beethoven?

Welser-Möst: Nach der Französischen Revolution und nach Napoleon herrschte unter Intellektuellen die große Ernüchterung – mit Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit ging die Revolution in einem Blutbad unter. Goethe, Schiller, eben auch Beethoven einigten sich auf die schwammige Formulierung, den Kampf für das Gute zu führen, wobei niemand das Gute wirklich definiert hat. Bei Beethoven ist das Feuer für die revolutionäre Idee nicht erloschen, die dritte, vierte, fünfte Sinfonie und eben auch "Fidelio" sind Stücke, die diese politische, vor allem aber die philosophische Idee propagieren. Ich würde bei "Fidelio" von Musikzellen reden, die Beethoven schreibt und aus denen er ein größeres Gebilde, ein Ganzes macht. Es kommt mir fast wie Genmanipulation vor. Der Text wird in die Musikzelle hineininjiziert. Und dieser kompositorischen Herangehensweise muss man versuchen, gerecht zu werden. Jede dieser Figuren hat Visionen, Wünsche, Vorstellungen. Aber Beethoven nimmt das her und ordnet das alles unter der Vision, wie die Menschheit funktionieren sollte.

STANDARD: Ist Fidelio eine Liebesgeschichte, ein Revolutionsepos – oder beides, weil auch die Liebe eine Utopie ist?

Welser-Möst: Unbedingt! Das zeigt sich ganz deutlich am Ende, da wird es bei uns eine große Überraschung geben. Wir zeigen nicht das, was man erwartet.

STANDARD: Sondern?

Welser-Möst: Na, das werde ich natürlich nicht verraten! (lacht)

STANDARD: Regisseur und Dirigent sind manchmal nicht unbedingt zwei kommunizierende Gefäße. Wie intensiv arbeiten Sie mit dem Regisseur zusammen?

Welser-Möst: In der Tat hat der Opernbetrieb in den letzten dreißig, vierzig Jahren enorm gelitten, weil die zwei Gleise, die – verbunden durch viele Schwellen – parallel verlaufen sollten, sich auseinanderentwickelt haben. Fidelio ist die 72. Premiere in meinem Leben. Ich habe Regisseure erlebt, die sich einem Dialog verweigert haben. Die mit mir nicht über das Stück reden wollten. Jetzt bin ich ein alter Fuchs in dem Geschäft und arbeite ausschließlich mit Regisseuren, die mir erlauben, ihnen am Beginn des Arbeitsprozesses die Musik zu erklären – nicht das Stück. Nur die Musik. Wenn sich jemand verweigert, mit dem arbeite ich einfach nicht zusammen. Ich kann nicht Regie führen, Regisseure können nicht dirigieren. Da ist es doch gescheiter, man setzt sich zusammen und versucht es mit Teamarbeit. Wenn ich merke, der Regisseur fängt an, musikalisch zu denken, und ich denke in der Szene mit, dann passiert tatsächlich das Wunder Oper. Das merkt dann auch das Publikum.

STANDARD: Sie dirigieren auch wieder den im Vorjahr umjubelten "Rosenkavalier". Mögen Sie Wiederaufnahmen oder haben diese den Geschmack von Aufgewärmtem?

Welser-Möst: Überhaupt nicht. Im Repertoirebetrieb ist das was anderes, aber im Festivalbetrieb entwickeln sich Produktionen weiter, man kann mehr in die Tiefe gehen. Man lernt ja ein Stück erst während der Aufführungen kennen, denn es verhält sich ganz anders während der Proben und später bei den Aufführungen. Da kriegt diese beinahe animalische Gewalt, die wir zu bezwingen versuchen, ein anderes Gesicht.

STANDARD: Weil diese "Gewalt" dem Publikum ins Auge schauen muss?

Welser-Möst: Ja, vermutlich. Ich erlebe das immer wieder: Man investiert Monate in die Vorbereitungsarbeit, und dann ist bei den Aufführungen alles anders. Damit muss man umzugehen lernen und es verdauen. Dazu hatten wir jetzt ein Jahr Zeit. Voriges Jahr hatten wir beim "Rosenkavalier" zwei großartige Debüts: Krassimira Stoyanova und Günther Groissböck – und wie ich die beiden kenne, wird das heuer noch einmal eine andere Ebene bekommen. Sicher, ich würde es nicht gern zehn Jahre hintereinander machen, aber dieses Nachreifen ist spannend. Meine Bedingung war allerdings, dass alle Proben und Vorstellungen von den gleichen Musikern gespielt werden müssen. Wir haben ja 14 oder 15 Striche aufgemacht, die die Musiker alle nicht kannten. Da gibt es einige Chancen für kleinere Unfälle.

STANDARD: Wie lange brauchen Sie, um sich auf ein neues Orchester einzustimmen?

Welser-Möst: Ich bin ein Familienmensch, ich brauche lange, das sieht man auch am Cleveland Orchestra oder an den Wiener Philharmonikern. Die habe ich '99 das erste Mal dirigiert, das ging gar nicht gut. Trotzdem haben sie – und das werde ich ihnen nie vergessen – gesagt, mit dem wollen wir’s weiter probieren.

STANDARD: In Ihrem musikalischen Himmel: Mit welchen Orchestern würden Sie spielen wollen?

Welser-Möst: Ich will niemanden beleidigen, aber aus der momentanen Situation heraus: einen musikalischen Himmel ohne Clevelander und Wiener Philhamoniker will ich mir nicht vorstellen.

STANDARD: Sie werden, wenn Ihr derzeitiger Vertrag 2022 ausläuft, zwanzig Jahre das Cleveland Orchestra geleitet haben ...

Welser-Möst: (lacht) Wer weiß, vielleicht wird es auch noch länger!

STANDARD: Sie haben das Orchester durch rumplige Zeiten geführt. Was ist Ihr Erfolgsrezept?

Welser-Möst: Wir hatten, wie alle, große Schwierigkeiten. Der Endowment Fund, der unsere Speisekammer, unser Sparbuch ist, sank 2008 von 123 Millionen auf 93 Millionen Dollar. Das hatte natürlich Auswirkungen auf unser Jahresbudget. Aber wir haben trotzdem nicht, wie andere, die einfache Route eingeschlagen und nur sichere Sachen gespielt. Wir sind das einzige Spitzenorchester, das es wagt und bei den Berliner Festspielen ein reines Jörg-Widmann-Programm gespielt hat. Und zu Hause haben wir vom Abo-System zu Minifestivals teilweise umgeschwenkt, mit Symposien und Diskussionsveranstaltungen. Das Wichtigste ist, das Publikum herauszufordern und die Kunst nicht zu verwässern. Wir fürchten uns nicht vor Veränderung! Ich sage immer zu meinen Leuten: We have to change, otherwise we will be changed.

STANDARD: Worauf sind Sie besonders stolz?

Welser-Möst: Ehrlich gestanden darauf, dass ich der erste Musikdirektor seit 1921 bin, der das Orchester wieder in die Schulen gebracht hat. Und wir haben mit den Communities zusammengearbeitet, das hat dazu geführt, dass die Leute ihre Schwellenangst überwinden und in die Severance Hall kommen. Unsere Vision war: Ganz Cleveland macht Musik. Natürlich hatten wir auch Riesenglück, von einer Familie zwanzig Millionen Dollar geschenkt bekommen zu haben – mit der Auflage, dass alle Menschen unter 18 bei uns gratis ins Konzert gehen können. Außerdem beschäftigen wir einen jungen Mann, der sich ausschließlich mit Social Media beschäftigt. Der Erfolg: Zwanzig Prozent unseres Publikums sind jünger als 25. Und sie kommen wieder. Und diese permanente Innovation kreiert letztlich wieder eine Tradition.

STANDARD: Haben Sie diesen Mut zur Veränderung an der Wiener Staatsoper vermisst – und war das der Grund, warum Sie Ihren Vertrag vorzeitig gelöst haben?

Welser-Möst: Ich war vielleicht ein bisschen zu optimistisch in Bezug darauf, was man verändern könnte. Staatsoperndirektor Dominique Meyer ist ein sehr netter Mensch. Aber dort, wo die Reise hinging, kam der Punkt, wo ich nicht mehr mitwollte.

STANDARD: Bedauern Sie Ihren Schritt manchmal?

Welser-Möst: Nein. Solche Schritte setzt man ja nicht über Nacht aus einer Emotion heraus. Eine meiner Grundregeln ist, dass man Entscheidungen nicht bereuen soll. Sonst blickt man immer nur zurück. Außerdem ist es ja so: Wenn eine Tür zugeht, öffnet sich dafür eine andere. (Andrea Schurian, 31.7.2015)