Margit Schreiner: "Ich stelle mehr und mehr fest, dass es für mich zwischen Fiktion und Faktion immer weniger Unterschied gibt."

Foto: Alfred Pittertschatscher

STANDARD: Ihr neuer Roman passt gut zum Sommer, Ihre Ich-Erzählerin verbringt mit anderen einen Monat auf einer kleinen kroatischen Insel. Sie schreiben: "Die Zeit begann sich zu verändern, sie würde sich ab jetzt verlangsamen." Suchen Sie selbst auch einen solchen Rückzug?

Margit Schreiner: Ich bin selbst sechs Sommer auf dieser Insel gewesen. Es gibt da nur ein paar Fischerhäuser, die selten jemand mietet. Es gibt nichts zum Einkaufen und keinen Strom. Es ist, wie ich das im Buch beschreibe, eine sehr einsame Insel. Man ist mit den wesentlichen Dingen konfrontiert. Ich suche immer solche Orte. Ich habe auch in Japan abgeschieden zu schreiben begonnen. Es war damals so erleichternd für mich, dass mir niemand über die Schulter schaut. Im Moment ist mein Rückzugsgebiet der Wallersee. Ich bin direkt am See, finde dort meinen Rückzug. Und ja, die Zeit verlangsamt sich.

STANDARD: Heißt Rückzug für Sie auch kein Internet?

Schreiner: Ja, das ist wichtig, weil im Alltag immer Anfragen und Anrufe kommen. Das ist leider alles ablenkend, wenn man mit einem Projekt beschäftigt ist, in das man sich richtig vertiefen muss.

STANDARD: Ihre Protagonistin, eine Schriftstellerin, hat in "Das menschliche Gleichgewicht" ständig vor, zu arbeiten, kommt aber nicht dazu. Kennen Sie das?

Schreiner: Ja, das kenne ich. Aber ich habe auch schon sehr viel gearbeitet während solcher Aufenthalte. Aber in dem Fall, der im Buch geschildert wird, kommt eine so große Anforderung auf die Ich-Erzählerin zu, dass sie gar nicht zum Schreiben kommen kann.

STANDARD: Sie haben stets betont, Sie seien das Gegenteil einer Fiktional-fiktional-Autorin. Ist das nach wie vor so?

Schreiner: Das hat sich ein wenig geändert. Begonnen habe ich mit ganz autobiografischen Geschichten, wobei naturgemäß Vorkommnisse auch gedreht oder erfunden waren. Ich stelle mehr und mehr fest, dass es für mich zwischen Fiktion und Faktion immer weniger Unterschied gibt. Wenn man das eigene Leben betrachtet, ist das ja auch eine Erfindung. Man sucht sich einige Dinge raus, andere vergisst man vollkommen. Einiges hat man ohnehin nur aus zweiter Hand, aus Erzählungen der Eltern und von Fotos. Man sucht sich auch im eigenen Leben den eigenen Mythos, den man verfolgt. Somit ist für mich eigentlich alles Erfindung, auch meine autobiografischen Texte. Es sind viele kleine Zufälle dafür zuständig, was aus einem Menschen wird.

STANDARD: Was wäre aus Margit Schreiner geworden, wäre sie keine Schriftstellerin?

Schreiner: Ich könnte eine schöne Linie machen zurück als Kind zum Doktorspielen, meine beste Freundin war die Tochter unseres Hausarztes, ich habe mich immer für Medizinisches interessiert, und ich habe auch Psychologie studiert. Es hätte also gut sein können, dass ich Psychologin oder Ärztin geworden wäre.

STANDARD: Der Kern Ihres neuen Romans handelt von einer Tragödie, die vor längerem passiert ist. Sie haben 2013 im STANDARD-Album eine Kurzgeschichte darüber geschrieben. Was hat Sie an diesem Stoff nicht losgelassen?

Schreiner: Ich kannte das Paar, das nach Israel ausgewandert ist und dort ermordet wurde, von früher. Der Kontakt hatte sich verloren. Ich habe in der Zeitung über dieses Ereignis gelesen und war dann im Sommer darauf auf dieser kleinen Insel. Dort hat mich das alles sehr beschäftigt. Eine so schicksalhafte Geschichte lässt einen nicht los. Das ist jetzt viele Jahre her. Ich konnte zunächst nicht darüber schreiben, habe aber immer wieder einen Weg gesucht, wie das vielleicht gehen könnte. Ich habe nie mit irgendjemandem der Betroffenen gesprochen und alles rundherum erfunden. Sarah gibt es nicht. Sie ist die Figur, die mithilfe ihres Tagebuchs darüber berichtet, wie es jemandem geht, der so einen Schicksalsschlag erleidet. Und das ist das eigentliche Thema des Buches.

STANDARD: Ist für Sie das Schreiben also ein Verarbeitungsprozess?

Schreiner: Absolut. Was mich beschäftigt, was mich nicht loslässt, möchte ich in Worte fassen. Ich habe ja begonnen mit meinen Kindheitsgeschichten aus Linz, und ich merke dann, das Thema ist jetzt erledigt. Es taucht aber nach Jahren an anderer Stelle wieder auf. Man nennt das Entwicklung, dass man immer wieder auf eine ursprüngliche Situation andere Blicke wirft. Jeder, der mit den eigenen Eltern gehadert hat, wird manches mit eigenen Kindern relativieren. Insofern ist Schreiben therapeutisch und auch wieder nicht. Es heilt nicht, es ist nur eine Auseinandersetzung.

STANDARD: Ihr Buch hat eben zwei Erzählebenen, eine davon das Psychiatrie-Tagebuch einer traumatisierten jungen Frau. Wie geht das, sich in einen Menschen so hineinzuversetzen? Wie haben Sie dafür recherchiert?

Schreiner: Zum einen hab ich selbst Psychologie studiert, das war sicher hilfreich, und dann gibt es ja heute überall Jugendliche, die – ohne solche Schicksalsschläge zu erleiden – mit der Welt schwer zurechtkommen. Ich wollte einen Fall zeigen, der sehr extrem ist. Dieses Mädchen versucht trotz allem zu leben. Sie schafft es, ihr menschliches Gleichgewicht zu halten, obwohl sie es verloren hat.

STANDARD: Sie schreiben, dass der Schriftsteller davon profitiert, ein invasiver Mensch zu sein. Wie wichtig ist es Ihnen, an der nächsten Generation dranzubleiben?

Schreiner: Sehr wichtig. Ich habe viele junge Leute, mit denen ich eng verbunden bin, die mir viel erzählen. Es interessiert mich, wie die mit der Welt umgehen, die ich zum Teil sehr pessimistisch sehe. Mit dem invasiven Typ hadere ich im Roman. Es haben sich in meinem Leben auch schon Freunde auf die Füße getreten gefühlt. Aber ich versuche, niemanden bloßzustellen.

STANDARD: Ohne zu viel zu verraten: Aber die junge Frau verschwindet am Ende wieder. Wo dürfen wir sie uns heute vorstellen?

Schreiner: Dass sie verschwindet, hatte für mich den Sinn, dass sie sich nicht an jemanden anhängen will, sondern ihren eigenen Weg geht. Wo immer sie hingeht, wird sie in meiner Vorstellung ein eigenverantwortliches Leben führen.

STANDARD: Im Roman werden immer wieder von der Urlaubsgemeinschaft Sprüche an die Tür geheftet. Einer lautet: Man muss vergessen, um sich zu erinnern. Gilt das auch für das Schreiben von Geschichten?

Schreiner: Ja, ich denke schon, denn die Erinnerung ist immer gespeist von allen möglichen nicht inneren Faktoren. Wenn ich mich nur an das erinnere, was ich von Fotos kenne oder was andere über mich erzählt haben, dann ist das nur eine Facette. Es lohnt sich, in sich hineinzuhorchen und sich zu fragen: Was ist meine Erinnerung? Ich dachte früher immer, alles ist gespeichert. Musste aber mit Entsetzen feststellen, dass dem nicht so ist. Man würde wahrscheinlich wahnsinnig werden, wenn es so wäre. Das Hirn muss selektieren. Der Satz betrifft aber auch besonders Sarahs Geschichte, weil sie sich letztlich nicht mit dem traumatischen Erlebnis konfrontieren will. Sie sagt, sie erinnert sich nicht, und will es dabei belassen. Für mich war es eine Voraussetzung, dass sie sich eines Tages vielleicht doch erinnert.

STANDARD: Wie machen Sie das als professionelle Autorin? Notieren Sie mit? Schreiben Sie Tagebuch?

Schreiner: Ich habe Hefte und Bücher in allen möglichen Formaten, da notiere ich handschriftlich, was mir auffällt oder wenn ich etwas Interessantes gelesen habe. Leider habe ich zunächst nicht gekennzeichnet, woher ich bestimmte Sätze habe. Das war eine Mühe zu rekonstruieren, wo das herkommt. Die Verlage brauchen heute Nachweise, weil sonst alles gleich ein Plagiat ist. Ich recherchiere manchmal im Internet, aber einfach Passagen zu übernehmen, da muss der Verlag heute dafür zahlen. Ich zeichne auch viel in den Heften, die Insel, Industriebauten, immer wieder mein eigenes Schreibzimmer. Das entspannt mich.

STANDARD: Im neuen Roman legen Sie Bruno, dem Partner der Ich-Erzählerin, in den Mund, dass man als ältere Schriftstellerin aufpassen müsse, weil man schnell weg vom Fenster ist. Ängste, die Sie teilen?

Schreiner: Das sind auch meine Bedenken. Ich dachte früher immer, bis 60 muss man so aufgestellt sein, dass man eine große Freiheit hat, weil dann eh die Kräfte nachlassen. Ein junger Mensch findet heute kaum noch einen Verlag, weil da schon zehn vor ihm auf der Warteliste stehen. Zu der Zeit, zu der ich angefangen habe, war das einfacher. Aber die Literaturkritik will natürlich immer Leute entdecken, und das sind natürlich junge.

STANDARD: Hatten Sie wegen Ihrer Freiberuflichkeit je Existenzängste?

Schreiner: Die Phase habe ich schon überwunden. Es ist eine Frage der Technik, dass man, schon während man an einem Buch schreibt, sich sammelt und überlegt, was das nächste Projekt ist, um nicht in ein Loch zu fallen, das die Gefahr birgt, dass genau solche Gedanken aufkommen.

STANDARD: Ihre Pensionsvorsorge ist das Weiterarbeiten?

Schreiner: Ja, ich bin pensionsberechtigt, bekomme aber nur 450 Euro (lacht). Damit ist klar, es gibt keine Pension. Was ich mit dem Schreiben verdiene, wird alles zusammen versteuert. Ich muss davon Pensionsversicherung und Krankenkasse bezahlen. Das ist immerhin mit der Pension abgedeckt.

STANDARD: Bruno zieht sich als Figur durch mehrere Bücher.

Schreiner: Ich habe das mehrfach. Bruno ist immer der Lebensgefährte. Maria und Hans kommen öfter vor. Auch der Almsee kam viel vor. Es gibt schon so eine Innenwelt, in der meine Figuren leben und bestimmte Funktionen haben. Die Armen müssen dann einen Teil meiner Probleme mittragen. Mein Lebensgefährte ist unkompliziert, der sagt, du kannst mit meiner Figur machen, was du willst.

STANDARD: Meike Feßmann hat zu Ihrem letzten Roman "Die Tiere von Paris" in der "SZ" geschrieben, dass er aus einer Mischung von Alltäglichem und Ungeheuerlichem besteht. Das trifft auch auf das aktuelle Buch zu. Wie brüchig oder dünn ist der Boden, auf dem wir leben?

Schreiner: Ich glaube, der ist außerordentlich brüchig. Ich habe dieses Gefühl, dass alles auf einem dünnen Boden passiert, immer gehabt. Später habe ich das bei Stifter wiedergefunden, ein Kind, das ganz glücklich ist, und plötzlich zerfällt eine Vase in tausend Teile und damit die ganze Welt. Oder die erste Radfahrt in Thomas Bernhards "Das Kind", zuerst ein Hochgefühl und dann der Sturz, und alles ist kaputt. Ich denke, dass das in gewisser Hinsicht jeder hat, aber die meisten verdrängen es.

STANDARD: Wollten Sie immer Schriftstellerin werden?

Schreiner: Ja, den Wunsch gibt es seit meiner Volksschulzeit. Als ich schreiben gelernt habe, habe ich gleich „Das Nesthäkchen“ abgeschrieben, die Personen aber alle umbenannt. Ich war vollkommen überzeugt, dass ich das jetzt geschrieben habe, und habe es stolz meinen Eltern gezeigt. Meine Mutter sagte nur: Das hast du doch abgeschrieben. Ich war zu Tode gekränkt. Ab da habe ich immer geschrieben. Aber ich bin als Kind nur einmal umgezogen, von Muldenstraße 18 nach Muldenstraße 20. Nach der Matura dachte ich, das kann nicht reichen, um Schriftstellerin zu werden. Ich muss weg aus Linz. Ich habe dann Germanistik und Psychologie studiert, mich ins Studium reingesteigert und habe in Japan versucht, eine Dissertation zu schreiben. Ich hatte immer das Problem mit den Beweislagen in der Wissenschaft. In Japan, wo mir dann niemand über den Rücken geschaut hat, habe ich begonnen, Geschichten zu schreiben. Da dachte ich, das ist es.

STANDARD: Ihr erstes Erfolgsbuch war dann "Haus.Frauen.Sex". Viele Ihrer Bücher tragen feministische Themen in sich. Beim aktuellen Roman bekommt man fast das Gefühl, als wären sie ausgesöhnt mit dem Verhältnis zwischen den Geschlechtern. Täuscht dieser Eindruck?

Schreiner: Das Thema war ein anderes. Aber es ist trotzdem feministisch, weil diese Sarah so stark ist. Ich weiß nicht, ob ich das mit einer männlichen Figur so hinbekommen hätte. Man sieht als Frau, als berufstätige Frau mit Kind, die Welt anders, als ein Mann sie sehen würde. Man hat andere Kämpfe auszufechten. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie man als Frau schreiben kann, ohne dass das eine Rolle spielt.

STANDARD: Sie haben einen Band geschrieben, der heißt "Schreibt Thomas Bernhard Frauenliteratur?". Wie reagieren Sie, wenn jemand Ihre Bücher als Frauenliteratur bezeichnet?

Schreiner: Das ist schwierig. Man spricht auch nicht von Männerliteratur, wenn Männer ein Buch geschrieben haben. Eigentlich lehne ich diesen Begriff ab. Es ist Literatur, die eine Frau geschrieben hat. Die Literatur, die früher als Frauenliteratur bezeichnet wurde, das waren meist sehr wehleidige Bücher. Ich habe immer versucht, nicht wehleidig zu sein, sondern das an Kraft und Stärke hervorzuholen, was da ist. Es hat früher sehr viele Bücher gegeben, in denen die Autorinnen mit dem Schicksal sehr hadern. Man kann alles sagen, auch, dass alle Männer Verbrecher sind, aber man muss sich dessen bewusst sein, dass es eine subjektive Sicht ist. Bei „Haus.Frauen.Sex“ habe ich zunächst versucht, das aus der weiblichen Perspektive zu schreiben, und habe gemerkt, das wird weinerlich. Versuchsweise habe ich dann ein paar Seiten aus seiner Perspektive geschrieben und gemerkt, das geht. Und damit offengelassen: Diffamiert er sie, oder ist die so?

STANDARD: In Ihrer Kurzbiografie steht immer: Lebt nach Aufenthalten in Japan, Paris, Berlin, Italien wieder in Linz. Warum wieder in Linz?

Schreiner: Das war eigentlich meine Tochter, die in Berlin aufgewachsen ist und dann in Süditalien zur Schule ging. Ich habe gesagt, dass wir wieder weggehen, erst einmal nach Linz, und sie meinte: Aber da bleiben wir dann, zumindest bis ich 20 bin. Sie wollte nicht wieder die Länder wechseln, und das habe ich verstanden und ihr versprochen. Mittlerweile bin ich gerne in Linz. Es ist viel von meinen Kindheitserinnerungen abgefallen. Früher war es grau und eng. Mir war immer klar, da muss man weg. Als ich zurückkam, gab es dann das Brucknerhaus und das Stifterhaus, und meine Verwandten lebten alle nicht mehr. Da konnte ich neu anfangen.

STANDARD: Jetzt geht's wieder zurück an den Wallersee?

Schreiner: Ja genau. Da bin ich noch bis zur Frankfurter Buchmesse in Schreibklausur für das nächste Buch. Es wird darum gehen, dass es überall zu viel Müll, zu viele Menschen, zu viel Ballast, zu viel Verbauung und zu viel Technik gibt. Der Mensch will sich durch die Technik immer alles erleichtern und sucht dann Ruhe, um sich zu entspannen, und findet sie aber nirgends mehr. (Mia Eidlhuber, Album, 31.7.2015)