Deutschland oder Österreich seien der falsche Maßstab für Griechenland. Wer über das Land urteilen möchte, müsse auf andere ehemalige Gebiete des osmanischen Reichs blicken, etwa den Balkan, Ägypten oder die Türkei. So gesehen sei die Geschichte Griechenlands langfristig sowohl demokratisch als auch wirtschaftlich ein voller Erfolg. Das sagte der griechische Yale-Professor Stathis Kalyvas in einem Telefon-Interview mit dem STANDARD. Der Weg in die europäische Moderne sei kompliziert, ein Scheitern in einigen Aspekten daher unausweichlich, so der Politologe.

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Die Entwicklung Griechenlands seit seiner Unabhängigkeit vor knapp 200 Jahren ist durchaus ein Kunststück, sagt der griechische Yale-Professor Stathis Kalyvas.
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Kalyvas leitet in Yale das Programm für "Ordnung, Konflikte und Gewalt" und ist mit 25 Jahren aus Griechenland in die USA migriert. Er hat sich unter anderem mit zwei Büchern, "Modern Greece: What Everyone Needs To Know" und "From Stagnation to Forced Adjustment: Reforms in Greece, 1974–2010" in die Debatte um sein Heimatland eingebracht. Kalyvas begleitet das aktuelle Geschehen rund um Griechenland auch auf Twitter.

STANDARD: Griechenland gilt in Europa für viele als "Failed State", als Land, das nichts auf die Reihe kriegt. Sie schreiben in Ihrem Buch "Modern Greece" von einer langen Erfolgsgeschichte. Wie das?

Kalyvas: Griechenland ist im Vergleich mit ähnlichen Ländern, die aus dem Osmanischen Reich entstanden sind, das wirtschaftlich und politisch erfolgreichste. Das Land war eines der ersten Länder, die nicht zum Kern Westeuropas gehören, das Teil der europäischen Modernisierung wurde. Das ist natürlich noch bei weitem nicht abgeschlossen. Der Prozess ist so kompliziert, dass ein Scheitern in vielen Aspekten dazugehört. Die knapp 200 Jahre seit der Unabhängigkeit sind aber eine überraschende Erfolgsgeschichte.

Der Beitritt Griechenlands zur Europäischen Gemeinschaft 1981 ist ein zentraler Schritt der griechischen Modernisierung, sagt Kalyvas.
Foto: Stathis Kalyvas

STANDARD: Ist das auch ein Grund, warum viele Griechen um jeden Preis im Euro bleiben wollen?

Kalyvas: Ja, die Griechen wissen, sie sind so etwas wie ein Außenposten der europäischen Moderne im alten Herrschaftsbereich der Osmanen. Sie wollen Teil Europas sein, kein Teil vom Balkan, vom Nahen Osten oder vom Orient. Das sind keine erfolgreichen Ökonomien. Griechenland ist ein kleines Land in einer sehr schlechten Nachbarschaft, vom IS trennt das Land nur die Türkei. Im Euro zu sein schafft eine Art Sicherheit. Griechenland hat seit seiner Unabhängigkeit 1830 verstanden, dass sein Schicksal davon abhängt, sich mit Westeuropa zu verbinden.

STANDARD: Was ist Ihrer Einschätzung nach das größte Hindernis für weiteren Fortschritt in Athen?

Kalyvas: Die politischen und wirtschaftlichen Probleme sind eng verflochten, das hilft nicht unbedingt. Der Staat muss einsparen, gleichzeitig braucht es wirtschaftliche Reformen. Beides auf einmal ist meistens schwierig. Austerität führt oft zum Aufstieg von politischen Parteien, die kontraproduktiv sind. Auch dass die Reformen als Diktat von außen gesehen werden, ist ein Problem. All das muss man irgendwie zusammenbringen, damit etwas weitergeht.

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Griechenland sei ein schönes Land mit intelligenten, extrovertierten Menschen, sagt Kalyvas. Gebe es politische Stabilität, könne es nur nach oben gehen.
Foto: reuters / kourtoglou

STANDARD: Griechenland wird durch das neue EU-Programm quasi zu einem Protektorat, das ist dann wohl nicht förderlich?

Kalyvas: Absolut nicht. Die jetzige Regierung und auch schon frühere haben jegliche Glaubwürdigkeit verspielt, das ist das Ergebnis. Man muss aber über das Diktat hinauskommen. Es braucht neben der Peitsche auch Zuckerbrot. Die EU muss intelligent vorgehen.

STANDARD: Es liegt also an der EU?

Kalyvas: Griechenland hat in den vergangenen 30 Jahren unter einer sehr schlechten heimischen Politik gelitten, die wurde aber von der EU mit Geldtransfers für schwache Regionen unterstützt, die Verwendung der Gelder wurde nicht gut überwacht. Sonst wäre das nie so lange gutgegangen. Man kann die wirtschaftliche Lage mit jener in Ex-Sowjetländern vergleichen. Diese sind auch sehr geschlossen. Aber im Gegensatz zu vielen Menschen in diesen Ländern verbinden viele Griechen die Jahre der Misswirtschaft mit Wohlstand. Das ist der Grund, warum sich viele gegen Veränderung wehren. Die Krise hat nun die Realität gezeigt.

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Tsipras muss es nur Lula gleichtun, sagt Kalyvas, und eine 180-Grad-Kehrtwende machen. Im Bild ist Lula mit seiner Nachfolgerin, der brasilianischen Präsidentin Dilma Rousseff, zu sehen.
Foto: reuters / marcelino

STANDARD: Tsipras steckt wegen des Hilfspakets jetzt über drei Jahre in einer Zwangsjacke und muss das Gegenteil seiner eigenen politischen Überzeugungen umsetzen. Kann das funktionieren?

Kalyvas: Oh, ja! Dafür gibt es viele historische Beispiele. Nehmen Sie etwa den brasilianischen Ex-Präsidenten Lula her: Er trat mit einem sozialistischen Programm an, wollte verstaatlichen, und hat dann – sozial fair – den freien Markt und den Kapitalismus im Land gestärkt. Auch der französische Ex-Präsident Charles de Gaulle warb damit, Algerien nicht in die Unabhängigkeit zu entlassen, und hat dann genau das getan. Tsipras kann, wenn er will. Ob er es schafft, ob er die Kapazitäten hat, werden wir sehen.

STANDARD: Griechenland steht jetzt erneut vor einer scharfen Rezession, die Arbeitslosigkeit wird wohl weiter steigen, es gibt mehr Austerität. Haben Sie Angst, dass es Ihre Heimat irgendwann zerreißt?

Kalyvas: So etwas wird meistens durch einen abrupten Schock verursacht, nicht durch langwierige Prozesse. Ich war sehr besorgt, dass es im Falle eines Grexits zu sozialen Unruhen kommt. Große Demonstrationen und Streiks gibt es aber immer weniger, obwohl sich die Lage verschlechtert.

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Damit es Fortschritt geben kann, brauche es auch Krisen, sagt der Politikprofessor Kalyvas.
Foto: apa / vlachos

STANDARD: Ein Blick in die 1930er in Deutschland beweist das Gegenteil. Der Aufstieg der Nazis ging schleichend voran.

Kalyvas: Ja, aber gleichzeitig gab es große Schocks, es gab Militärcoups, Straßenschlachten, politische Parteien, die paramilitärische Arme hatten und international wurde die Demokratie als gescheitert, Faschismus und Kommunismus als neue, bessere Optionen angesehen. Das trifft heute alles nicht auf Griechenland zu.

STANDARD: In der europäischen Debatte ist Griechenland der Sündenbock, in den USA dreht sich die Debatte viel mehr um die Fehlkonstruktion des Euro. Wieso?

Kalyvas: Viele amerikanische Ökonomen ignorieren den Euro als Teil der zunehmenden Integration Europas. Historisch sind so große Gebilde nur durch Kriege entstanden, der US-Bürgerkrieg war etwa ein Wendepunkt für die Vereinigung der USA. So ein unfertiges Projekt wie die Währungsunion führt unweigerlich zur Krise, die zwei Optionen lässt: tiefere Integration oder Scheitern. Weil die Kosten des Scheiterns sehr hoch sind, fassen Politiker oft Entschlüsse, zu denen sie sonst nie bereit wären. Es braucht Krisen und Schocks, damit sich etwas weiterentwickelt. Das ist die Logik der europäischen Integration. (Andreas Sator, 3.8.2015)