Eine vielschichtige Annäherung an Japan und den tausend Jahre alten Genji-Roman der Hofdame Murasaki Shikibu, die zum Modell einer poetischen Weltsicht wird und ihre eigene Wahrheit hervorbringt: Leopold Federmair.

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Wien – Dass die Literatur Grenzen überschreitet, ist eine Binsenweisheit. Sie tut es allein schon deshalb, weil sie einen Möglichkeitsraum eröffnet. Dieser kann der Realität zum Verwechseln ähnlich sehen und weist doch über sie hinaus. Grenzenlos freilich sind auch Fiktionen nicht. Was ein Roman zum Beispiel darf und soll, gilt bis weit in die Moderne hinein als ausgemacht. Vor allem gilt: Die Fiktion selbst ist eine Grenze, die vom Roman gezogen und lange Zeit nicht infrage gestellt wird.

Gemessen an dieser Vorgabe, ist der Roman Wandlungen des Prinzen Genji (Otto Müller, € 22,00) von Leopold Federmair ein räudiger Gattungsbastard. Ein hybrides Gebilde aus Autobiografie, Reportage, Reisebericht, Essay und poetologischer Reflexion, das eine radikalisierte Form der Grenzüberschreitung zum Motto erhebt: "Die Literatur führt auf Abwege ..." Dem Impuls zu solcher Abwegigkeit nachzugeben und die auseinanderstrebenden Teile dann doch zum Ganzen eines Romans zu fügen, mag die große Herausforderung gewesen sein, der sich Federmair gestellt hat.

Erschütterung der Gewissheiten

Dabei forciert er eine schwindelerregende Durchdringung von Leben und Lesen, Wahrnehmen und Träumen, Realität und Fiktion, die letztlich darauf hinausläuft, das Gefüge der Grenzziehungen und vermeintlichen Gewissheiten zu erschüttern. Das betrifft nicht bloß Gattungsgrenzen, sondern weitaus grundsätzlicher jeden voreingenommenen Zugang zur Welt. Auf die Probe gestellt wird so ein Zugang dort, wo er auf Fremdes, Unvertrautes trifft.

Insofern hätte Federmair den Schauplatz seines Romans nicht besser wählen können: Abgesehen vom autobiografischen Bezug, der diese Wahl plausibel macht – der Autor lebt und arbeitet seit einigen Jahren in Hiroshima -, stellt Japan auch heute noch das Exempel einer unzugänglichen Lebenswelt und Kultur dar.

Federmair verschärft diese Unzugänglichkeit noch, indem er sich nicht bloß auf das heutige, sondern mit der Geschichte vom Prinzen Genji auch auf ein historisch entrücktes Japan bezieht. Der Genji-Roman, den Federmair im Titel herbeizitiert, ist tausend Jahre alt, stammt von der japanischen Hofdame Murasaki Shikibu und gilt Barbara Frischmuth als "der erste große, in der Literatur verwirklichte weibliche Traum".

Weiblicher Traum

Lektüre und Deutung dieses Buches, mit dem das Japanische als Literatursprache etabliert wurde, bilden eine der vielen Ebenen von Federmairs Roman. Auf einer anderen setzt sich der Ich-Erzähler, in dem unschwer der Autor selbst zu erkennen ist, mit dem Japan der Gegenwart auseinander.

Federmair schildert Gesellschaft, Kultur und Lebensweise des Landes aus der scheuen, irritierbaren Distanz des Außenseiters und benutzt dabei die Geschichte vom Prinzen Genji als Kontrast- und Vergleichsfolie. Entscheidend ist dann freilich, dass die Geschichte auch in das eigentliche Romangeschehen hineinspielt und damit jenen Taumel der Entgrenzungen entfesselt, der nicht nur Zeiten und Räume, sondern auch inneres und äußeres Geschehen, Illusion und Wirklichkeit amalgamiert. Da kann es zum Beispiel geschehen, dass Genji seine Romanwelt verlässt und in die des Erzählers eintritt. Nebeneinander radeln sie auf einer Landstraße und holen die Tochter des Erzählers von der Schule ab. Und Murasaki ist gleich dreimal gegenwärtig: als Figur des Genji-Romans, als dessen Verfasserin und als Geliebte in der Romanwelt des Ich-Erzählers. Wobei zusehends Zweifel aufkommen, ob die Affäre mit dieser Geliebten nicht imaginiert ist.

Gleichzeitigkeit

Federmair schürt den Zweifel, denn er zielt auf die bewusste Vermengung der Sphären. Orientiert am vorurteilslosen Blick des Kindes, akzeptiert er keine Hierarchien und Festlegungen. Sein Ich-Erzähler erscheint stilisiert zum Konvolutor, dessen Kopf ein "Hort der Gleichzeitigkeit" sei: "Ich, der Konvolutor, stehe im Jahr 2008 in der ausgedehnten Regenzeit zwischen muffigen Reisfeldern, und ich sitze unter einem Dachvorsprung am Seerosenteich im Kyoto der Heian-Zeit, und ich bewahre ,unseren Balkan', auf den ich nie einen realen Fuß gesetzt habe ..."

Dass diese Gleichzeitigkeit Unschärfen, Unsicherheiten, Ambivalenzen mit sich bringt, begreift Federmair nicht als Mangel, sondern als Qualität. Letztlich geht in dieser Qualität auf, was man poetische Erkenntnis nennen könnte. So gesehen gerät die vielschichtige Annäherung an den fremden Kontinent Japan, wie sie Federmairs Hybridroman bewerkstelligt, zum Modell einer Weltsicht, die ihre eigene Wahrheit hervorbringt: "Im Nebel tasten und davon berichten." (Gerhard Melzer, 4.8.2015)