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Konservativ, liberal, unabhängig, liberal, konservativ: Sir Winston Leonard Spencer-Churchill, der wohl berühmteste politische Hin-und-her-Wechsler.

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Die britische Politikwissenschafterin Melanie Sully leitet das Go-Government-Institut in Wien und lehrte an der Diplomatischen Akademie.

Wien – Kathrin Nachbaur hat es einmal getan. Robert Lugar schon dreimal. Damit fehlt ihm nur noch ein politischer Seitenwechsel, um mit dem wohl berühmtesten politischen Swinger gleichzuziehen. Winston Churchill nämlich pendelte insgesamt viermal hin und her zwischen verschiedenen (partei)politischen Zuständen und zelebrierte den politischen Seitenwechsel.

Erst zog der legendäre britische Premierminister 1901 als Konservativer für die Tories ins englische Parlament ein, um drei Jahre später mit Tusch zu den Liberalen zu wechseln, weil die sich für den Freihandel einsetzten. Doch auch bei den Whigs wurde ihm die politische Flügelspannweite bald zu eng, und Churchill kandidierte als Unabhängiger. Schließlich wechselte der spätere Nobelpreisträger 1924 wieder zur Liberalen Partei und von dort zurück zu seiner Erstpartei, um wieder ein Tory zu sein.

Für Robert Lugar würde das Churchill-Muster in letzter Konsequenz einen Return zur FPÖ bedeuten, was aber vermutlich wirklich ausgeschlossen werden kann – ist der nunmehrige Klubchef des Team Stronach doch ein Haider-Jünger, dem er auch auf die BZÖ-Seite folgte, der er dann aber doch ein Jahr als unabhängiger oder "wilder" Abgeordneter im Parlament vorzog, bis Frank Stronach kam. Seine Ex-Teamkollegin Nachbaur wiederum setzt mit ihrem Erstwechsel aktuell auf die ÖVP.

Nach dem Wechsel zur Nachwahl

Churchills politische Wechsellust bescherte ihm jedenfalls den Ruf eines unzuverlässigen Zeitgenossen, vielen politischen Wegbegleitern galt er als "Verräter" – und die Britinnen und Briten hegen bis heute eine relativ große Skepsis gegenüber abtrünnigen Parteigängern, erzählt die in England geborene Politikwissenschafterin Melanie Sully im STANDARD-Gespräch. Laut einer Umfrage hätten die meisten gern die Möglichkeit, "dass sie auch bei einem Fraktionswechsel von Abgeordneten eine sogenannte Nachwahl haben könnten".

Das britische System, ein Mehrheitswahlrechtssystem, sieht sogenannte "by-elections" – Nachwahlen – vor für den Fall, dass ein Parlamentsabgeordneter eines Wahlkreises stirbt oder zurücktritt. Außerdem können seit einer heuer beschlossenen Regelung künftig auch Abgeordnete, "wenn sie eine gewisse rote Linie durch ihr Verhalten überschreiten", zu einem "Recall" verpflichtet werden, erklärt Sully. Sie müssen sich einer Nachwahl stellen, die übrigens auch von zehn Prozent der Wahlberechtigten im Wahlkreis erzwungen werden kann, falls die etwa unzufrieden sind mit der Arbeit "ihrer" Abgeordneten.

In Österreich gibt es eine Mitgift

Immerhin: Anders als in Österreich, wo die jüngsten Seitenwechsel von vier Abgeordneten des Team Stronach, dessen Parlamentsklub ja von Anfang an durch fünf politische Überläufer aus dem BZÖ-Lager entstanden ist, für Aufregung sorgten, hatte Churchill kein Wechselgeld mit dabei. Denn den Effekt, dass gewechselte Abgeordnete, die sich einem anderen Parlamentsklub anschließen, diesem Geld mitbringen, indem dessen Klubförderung pro Kopf (in Österreich um 48.118 Euro pro Jahr) steigt, gibt es in Großbritannien nicht, erklärt Sully, die in Wien das Institut Go-Governance leitet.

Das habe nicht nur mit einem grundlegend anderen System, sondern vor allem mit einem anderen Selbstverständnis der Abgeordneten und anderen Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger an diese zu tun, sagt die Politologin.

Allmächtiger Klub

Ein grundlegender Unterschied zu dem britischen System ist, dass es dort keinen "Klub" im vergleichbaren Sinn wie die österreichischen Parlamentsklubs gibt. Abgeordnete können zwar einer Wahlpartei zugeordnet sein, aber wenn sie für sich zu der Entscheidung kommen, dass sich ihre eigene Position – oder aber auch die Linie der Partei – so geändert hat, dass sie sie verlassen wollen oder müssen, können sie ihre parlamentarische Arbeit auch als "Unabhängige" weiterführen.

Wenn sie das tun, gehört es zu ihrem Selbstverständnis als Abgeordnete, dass sie sich selbst ihren Wählerinnen und Wählern quasi noch einmal zur Wahl stellen. So geschehen, als zuletzt etwa zwei Tory-Abgeordnete zur EU-kritischen Ukip übergelaufen sind. Diese beiden Abgeordneten hätten trotz ihres Fraktionswechsels im Parlament bleiben können, "und niemand hätte etwas gemacht", erklärt Sully.

Gemacht haben aber die beiden Seitenwechsler selbst etwas, denn sie haben sich "freiwillig für eine Nachwahl entschieden, weil sie sich gesagt haben: 'Wir müssen das unseren Wählern erklären, wenn wir zu Ukip wollen'", erläutert die Politologin.

"Respekt für die Wähler"

Im Fall der beiden konservativen Mandatare war ihnen die Tory-Partei zu wenig EU-skeptisch, und das kommunizierten sie im Nachwahl-Wahlkampf auch so – "und beide wurden von den Wählern für ihren Wechsel bestätigt". Sully verbucht das als Zeichen des "Respekts für die Wähler", für die sich die britischen Abgeordneten auch viel stärker als Person verantwortlich fühlen, weil dort "Persönlichkeiten in der Politik viel wichtiger sind als in Österreich".

In Großbritannien können Abgeordnete auch als "Unabhängige" kandidieren: "Zehn Unterstützungserklärungen, 500 Pfund, und los geht's", sagt Sully. In Österreich geht ohne Partei und Liste nichts.

Nur wild, oder doch unabhängig?

"Schon die in Österreich übliche Begrifflichkeit ,wilde Abgeordnete' hat eine ganz andere Konnotation", sagt Sully. Zudem seien "wilde" oder eigentlich "freie", also an keinen Klubzwang gebundene Abgeordnete in Österreich quasi zur Untätigkeit gezwungen, weil sie zum Beispiel in parlamentarischen Ausschüssen "nur zuhören dürfen. Das ist ein teurer Spaß für die Steuerzahler und auch keine sehr attraktive Option für Politiker", meint die Politikwissenschafterin: "Daher suchen sie sich dann ja oft eine andere Partei. In Großbritannien treten sie aus ihrer Partei aus und können ihre politische Arbeit trotzdem weitermachen. Auch ohne Partei."

Auch in Deutschland hätten, erklärt Sully, "wilde" Abgeordnete ein "Rede- und Antragsrecht in Ausschüssen. Immerhin ist die Ausschussarbeit ja die eigentliche parlamentarische Arbeit."

Das Geld wandert nicht mit

Und welche Rolle spielt das Geld in Großbritanniens Parlamentspolitik? Nun, es gibt dort kaum eine staatliche Parteienfinanzierung: "Nur die Oppositionsparteien haben Anspruch auf staatliche Förderungen für ihre parlamentarische Arbeit, um den Finanzierungsvorteil der Regierungsparteien auszugleichen. Die Regierungsparteien finanzieren sich fast ausschließlich durch Spenden, etwa von Unternehmen oder Gewerkschaften."

Ab zwei Abgeordneten beziehungsweise basierend auf den Stimmen in den Wahlkreisen haben Parteien in der parlamentarischen Opposition Anspruch auf finanzielle Unterstützung durch den Staat. Wenn dann nach der Wahl Abgeordnete woanders eine neue Heimat für sich finden, "dann hat das keine Bedeutung für die alte und die neue Partei. Der Betrag wird auf Basis des Wahlergebnisses am Anfang fixiert für die Legislaturperiode", betont Sully: "Ein Wechsel bringt also der neuen Partei nichts und nimmt der alten nichts weg."

Estland und Bulgarien erlauben nur einen Klub

Kein "Wechselgeld" für politische Bäumchen-wechsle-dich-Aktionen gibt es zum Beispiel auch in Estland und Bulgarien. Dort nämlich können Abgeordnete zwar aus ihrem Klub austreten, nicht aber in einen anderen eintreten. Sully: "Sie können aber mit anderen Klubs kooperieren. Austritt bedeutet also Unabhängigkeit, aber nicht Untätigkeit."

Und auch Bulgarien verbietet für den Fall eines Klubaustritts von Abgeordneten den Eintritt in einen anderen Klub. Die Frage, ob sich solche Klubwechsel dann auch finanziell rechnen, stellt sich in diesen Ländern erst gar nicht. (Lisa Nimmervoll, 7.8.2015)