Irene Promussas: "Es ist ein Unterschied, ob es heißt: behindertes Kind oder Kind mit Behinderung."

Foto: Robert Newald

STANDARD: Sie sind Mutter einer 15-jährigen Tochter mit einer seltenen Erkrankung. Mit ihrem Verein engagieren Sie sich für andere Eltern chronisch kranker Kinder, im September feiert Lobby4kids zehn Jahre Bestehen. Was hat sich in dieser Zeitspanne für Familien mit Kind mit Behinderung verändert?

Promussas: Als ich angefangen habe, war man nicht gewohnt, dass sich Familien mit Kindern mit chronischen Erkrankungen sichtbar machen wollen und können. Dabei kann jeder von uns betroffen sein, zum Beispiel wenn ein Unfall passiert. Im Laufe der zehn Jahre sind mehr Therapieplätze geschaffen worden, es werden hoffentlich jetzt auch mehr inklusive Hort- und Kindergartenplätze geschaffen – auf die aber bis heute kein Rechtsanspruch besteht. Die Kindergarten- und Hortplatzsuche ist immer noch unser Hauptbetätigungsfeld. Ein Problem ist, dass die Ausbildung zum Sonderpädagogen abgeschafft wurde und entsprechende Module in der Lehrerausbildung kaum vorhanden sind.

STANDARD: Lehrer oder Betreuer, die um medizinische oder pflegerische Handgriffe gebeten werden, sind oft verunsichert.

Promussas: Jeder darf im Prinzip alles machen, aber keiner muss. Selbst wenn man Pädagoginnen schult, sind sie rechtlich nicht abgesichert. Ich als Mutter bin darauf angewiesen, ob ich jemanden finde, der sich für nötige Handgriffe bereiterklärt. Ich verstehe auch Pädagoginnen, die sagen, sie trauen sich nicht. Zum Teil bekommen sie Druck von oben, das nicht zu tun. Ich habe wegen der Magensonde meiner Tochter alle Hortpädagoginnen geschult, und plötzlich hat es geheißen, wir bekommen den Platz doch nicht, da sie das nicht dürfen. Im Endeffekt hat es dann doch geklappt, aber es war ein Kampf. Bei Diabetes gibt es viele ähnliche Fälle.

STANDARD: Daher gibt es für Kinder mit Diabetes eine Bürgerinitiative?

Promussas: Wir haben mitgeholfen, 7.000 Unterschriften zum Thema "Gleiche Rechte für chronisch kranke Kinder" am Beispiel der Diabeteskinder zu sammeln. Diabetes ist eine Krankheit, die zwar Management erfordert, mit der Kinder aber theoretisch alles mitmachen können. Vor allem im Kindergarten traut sich das Personal aber oft nicht, die notwendigen Handgriffe zu übernehmen.

STANDARD: Heute werden Sie wegen Ihrer Expertise in Arbeitsgruppen von Ministerien geladen, Behörden fragen Sie um Rat. Haben Sie gedacht, dass es so weit kommt?

Promussas: Ich dachte nur, ich mache einfach mal. Ich bin meiner Tochter sehr dankbar, sie hat immer mitgespielt und war oft das Pionierkind. Unser erstes Problem, die Suche nach einer Hortbetreuung, habe ich mit dem Volksanwalt durchgekämpft. Es gab eine Weisung. Wenn es heute Probleme gibt, schicke ich immer noch seinen Brief von 2005. Meine Tochter hat unter anderem das Problem, dass sie nicht normal essen, schlafen oder duschen kann. Unter ihrem T-Shirt befinden eine Magensonde und eine Pumpe. Mit 15 Jahren fallen diese Menschen aber schon ins Erwachsenengesetz. Sie werden von einem Gutachter angesehen, der eigentlich für alte Menschen zuständig ist. Der fragt dann nicht, wie geht es denn mit Magensonde und Pumpe, sondern: Kannst du die Heizung abdrehen und die Waschmaschine anwerfen? Ich dachte, ich höre nicht recht. Dann muss man wieder vor Gericht streiten wegen der Einstufung der Pflegestufe.

STANDARD: Fehlt anderen Eltern in einer ähnlichen Situation oft die Kraft dafür, sich durchzuboxen?

Promussas: Das ist der Grund, warum es Lobby4kids gibt. Wenn ich schon mit diesem Mundwerk gesegnet bin, Nerven aus Stahl und viel Energie habe, muss ich das einsetzen. Wir betreuen viele Familien mit Migrationshintergrund, ich habe Asylwerberfamilien, die nicht wissen: Was steht mir zu? Was hat mein Kind überhaupt?Welche Überlebenschancen? Viele unserer Mitglieder sind Alleinerzieherinnen. Wenn man in der Situation nicht die adäquate Betreuung findet, rutschen die Mütter – wir hatten bisher nur ein bis zwei alleinerziehende Väter – ganz schnell in die Armutsfalle.

STANDARD: Auch die Pränataldiagnostik hat sich in den vergangenen zehn Jahren weiterentwickelt.

Promussas: Mich stört, dass da keine gute Debatte geführt wurde und wird. Es ist eine Frage der Ethik, ob man ein Kind mit Behinderung immer als Leid und Belastung betrachtet. Es ist oft ein Schock, wenn man hört, das Kind wird dieses oder jenes nicht können. Man kann aber vieles nicht mit Sicherheit vorhersagen. Es ist immer auch eine Chance. Ich kann schlecht damit leben, dass Kinder im Voraus selektiert werden. Ich denke mir, wo ist dann die Grenze? Ist eine Lebenserwartung von 20 oder 30 Jahren nichts? Wer beurteilt das? Und wo ist dann die Grenze zu "Jetzt hätte ich gerne ein Kind mit blauen Augen."

STANDARD: Viele sind verunsichert, wenn sie Behinderung benennen müssen. Was sagen Sie?

Promussas: Mir geht es darum, wo das Wort steht. Zuerst den Menschen, dann sein Handicap. Es ist ein Unterschied, ob es heißt: behindertes Kind oder Kind mit Behinderung.

STANDARD: Ihre gesamte Tätigkeit für Lobby4kids ist ehrenamtlich?

Promussas: Eine Art Geschäftsführung könnte notwendig werden, denn ich arbeite sieben Tage die Woche für Lobby4kids, weshalb ich die Stunden meines "normalen" Jobs auch nicht aufstocken kann. Ich werde einmal ein Riesenpensionsproblem haben! Derzeit hängt auch noch viel an meiner Person, aber ich will nicht, dass die Organisation mit mir stirbt. Außer – Idealfall! – es braucht uns nicht mehr, weil dann eh alles wunderbar klappt. (Gudrun Springer, 7.8.2015)