Was ist ein Spiel? Man muss diese Frage in einem Text über "Everybody’s Gone To The Rapture" ganz am Anfang stellen, denn je nach subjektiver Antwort darauf wird man das heiß erwartete Erzählexperiment des britischen Entwicklerstudios The Chinese Room entweder schmähen oder aber würdigen. Der niederländische Kulturwissenschafter Johan Huizinga hat auf diese Frage bereits in den 1930er-Jahren eine präzise Antwort gegeben: Ein Spiel ist ihm zufolge "eine freiwillige Handlung oder Beschäftigung, die nach gewissen Regeln verrichtet wird, ihr Ziel in sich selber hat und begleitet wird von einem Gefühl der Spannung und Freude und einem Bewusstsein des 'Andersseins‘ als das 'gewöhnliche Leben‘".

Eins vorweg: Wer nur jene Videospiele als "richtige" Spiele gelten lässt, die Geschicklichkeits- oder Reaktionsprüfungen, Puzzles oder Kämpfe beinhalten, sollte um "Everybody’s Gone To The Rapture" einen weiten Bogen machen. Der Schmähbegriff des "Walking Simulators" hat sich inzwischen zur akzeptierten Genrebezeichnung für jene Spiele gemausert, die weniger Interaktionsmöglichkeiten als traditionelle Spiele bieten und ihren Spielerinnen und Spielern dafür Gelegenheit bieten, ihre Welten einfach zu erkunden, in der Atmosphäre zu versinken und spazierenzugehen – ein eigenes Genre, das inzwischen einige Höhepunkte hervorgebracht hat. "Everybody’s Gone To The Rapture" ist ein weiterer solcher Höhepunkt – und zugleich ein optisches und akustisches Meisterwerk.

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Bild: Everybody's Gone To The Rapture

Apocalypse now

Der Weg beginnt auf einem kleinen Hügel in einer typisch englischen Landschaft. Niedrige Steinmauern und Hecken, üppige Vegetation und eine Dorfidylle, die postkartentypisch das hierzulande vor allem aus Film und TV bekannte englische Landleben darstellt. Doch so sauber, adrett und beschaulich sich Natur und Dorf auch darstellen, etwas ist faul: Die Szenerie ist menschenleer, gespenstisch verlassen liegen Gärten, Häuser und Pubs in der Vormittagssonne. Etwas ist geschehen, eine geheimnisvolle Apokalypse, die alle Menschen verschwinden hat lassen – das englische "Rapture" des Titels steht vielsagend für die religiöse Entrückung, die körperliche Aufnahme von Heiligen und Gläubigen in den Himmel.

Die Aufgabe der Spielerinnen und Spieler ist es, sich einen Reim auf die Vorgänge in und um das Dorf zu machen, das im Schatten einer astronomischen Forschungseinrichtung liegt, um das Schicksal der verschwundenen Bewohner aufzuklären. In der aus der Egoperspektive offen begehbaren Welt verstreute Tonbandgeräte und Telefone geben Hinweise, doch auch ein mysteriöses, über Wege und Felder tanzendes Irrlicht führt uns zu wichtigen Orten und gewährt Einblicke in die Vergangenheit. Wieder und wieder begegnen Spielerinnen und Spielern schemenhafte Lichtgestalten, die für eine kurze Szene die Momente vor der Katastrophe nachstellen: Nachbarn, die sich unterhalten; Diskussionen, die in Streit münden; intime Momente, die vom Leben in Angst vor dem Untergang erzählen. Das Finden und Aktivieren dieser kleinen Vignetten macht den Großteil der spielerischen Interaktion aus, und bis die Wanderung nach beachtlichen fünf Stunden an ihrem dramatischen Ende anlangt, erzählt "Everybody’s Gone To The Rapture" so in brillant gesprochenen Dialogen fragmentarisch von sechs ganz verschiedenen Figuren dieser Stadt.

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Bild: Everybody's Gone To The Rapture

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Stationentheater in großartiger Atmosphäre

Kaum ein Spiel übertrifft "Rapture", was die Qualität dieser Szenen angeht; die von hervorragenden Schauspielern gesprochenen Dialoge und Situationen schaffen es trotz ihrer Kürze, differenzierte Porträts ihrer Figuren zu zeichnen, die sich langsam zu einem komplexen Bild eines Dorfes in einer Krisensituation zusammensetzen. Spielerinnen und Spieler mit guten Englischkenntnissen erwartet so ein spannendes Hybrid aus Hörspiel und Stationentheater, das sich durch feinfühlige Charakterzeichnung und unerwartete Komplexität tatsächlich als die von "Dear Esther" versprochene neue Form des Erzählens behaupten kann – irgendwo zwischen Literatur, Theater und interaktivem Medium Videospiel.

Dass der Text, die Dialoge und Monologe der Figuren, im Zentrum von "Everybody’s Gone To The Rapture" stehen, mag man auf den ersten Blick allerdings kaum glauben: In selten außerhalb millionenschwerer Blockbuster gesehener Grafikpracht nimmt nämlich zuallererst die Optik gefangen. Zwischen Postkartenmotiven, bedrückender Verlassenheit und einem großartigen Wechselspiel von Licht und Atmosphäre zeigt sich eine mit größter Hingabe gestaltete Spielwelt, die mit ihrem besonderen Augenmerk auf richtige Proportion wie aus einem Guss wirkt. Kleine Waldwege, ein Strandressort bei Regen, in der Nachmittagssonne wogende Felder, das Sternenmeer, das in einer Waldnacht zwischen den schwarzen Bäumen leuchtet: Wie in "Dear Esther" nimmt auch "Rapture" seine Spielerinnen und Spieler auf eine Wanderung in außergewöhnliche Stimmungen und ist so vor allem eine interaktive Erfahrung, auf die man sich einlassen muss.

Die orchestrale Musik von Jessica Curry untermalt und betont diese Stimmungen wie in den vorigen Titeln von The Chinese Room spektakulär; die Stimmen des Metro Voices Choir setzen die Glanzpunkte in einem Soundtrack, der außergewöhnlich ist. "Everybody’s Gone To The Rapture" ist nicht zuletzt in diesem audiovisuellen Zusammenspiel ein meditatives Erlebnis, das in seinem eigenen, aber auch in anderen Medien seinesgleichen sucht.

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Kein Spiel für alle

Als Experiment und als rein sinnliches Erlebnis, als virtuelle Erfahrung ist "Everybody’s Gone To The Rapture" ein Pflichtspiel für jene Spielerinnen und Spieler, die dem Durchwandern meisterhafter Atmosphären etwas abgewinnen können; als Spiel allein betrachtet, lassen sich einige Kritikpunkte finden. Die Gehgeschwindigkeit der Spielfigur ist zum Teil quälend langsam, selbst wenn man mit gedrückter R2-Taste etwas schneller laufen kann (ein Patch könnte laut Hersteller folgen); die Abfolge von Dialogszenen und Erforschung reißt an manchen Stellen aus der Stimmung, und die offen erwanderbare Welt ist gerade durch ihren Realismus manchmal nur mit Umkehren und doppelten Wegen zur Gänze erforschbar – bei der mühsam langsamen Geschwindigkeit auch ein Ärgernis. Mit fünf Stunden Spieldauer ist "Rapture" auch so lang, dass es sich unter Umständen nicht am Stück beenden lässt – das schadet der Atmosphäre, die sich ohne Unterbrechung beeindruckender aufbauen kann.

Dass sich – Vorsicht: Mini-Spoiler – die mysteriöse Handlung auch bei mehrmaligem Durchspielen nicht zur Gänze lückenlos erklären und zu einem alle Fragen beantwortenden Ganzen zusammensetzen lässt, wird Kenner von The Chinese Room hingegen kaum überraschen. Im Unterschied zum in gewisser Weise eng verwandten "The Vanishing of Ethan Carter" ist "Everybody’s Gone To The Rapture" kein Puzzlespiel oder Mystery-Adventure, das den Spieler zu einer "richtigen" Antwort lotst, sondern ein offenes Kunstwerk, das zur Interpretation auffordert, Fragen stellt und unbeantwortet lässt.

In seinem Kern, hinter aller Grafikpracht, hinter grandioser Musik und Atmosphäre, erzählt "Everybody’s Gone To The Rapture" aber, wie Literatur, Film, Theater, wie alle Kunst, von Menschen; intim, widersprüchlich und letztlich mit großer Zuneigung. Es erzählt von Angst, Trauer, kleinen Makeln und Liebe im Angesicht der Hoffnungslosigkeit. Alleine deshalb ist es ein besonderes Spiel. (Rainer Sigl, 20.8.2015)

"Everybody’s Gone To The Rapture" (19,99 Euro) ist exklusiv für PS4 erschienen.