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Macht es sich mit schwieriger Vergangenheit nicht leicht, bietet dafür aber packende Lektüren: Drago Jancar (geb. 1948 in Maribor).


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Wien – Eine junge Dame spaziert mit einem Alligator an der Leine durch die Straßen. Es ist in Ljubljana, 1937. In einem einzigen Satz ist die Figur in ihrer außergewöhnlichen Dimension präsent.

In einer Winternacht Anfang 1944 führt ein dunkler Trupp sie und ihren Mann – einen reichen Unternehmer, der sowohl zu den Deutschen als auch zu den Partisanen Kontakte unterhält – aus ihrer Burg in Oberkrain ab. Danach bleibt Veronika Zarnik verschwunden. Ihre Gestalt meinen fünf Personen, unabhängig voneinander, nach den Wirren des Krieges und den gewaltigen Umbrüchen nachts zu sehen.

Den Anfang macht in Drago Jancars Roman Die Nacht, als ich sie sah Major Stevo, der 1945 im britischen Lager in Italien sitzt. Seine Welt ist auf den Kopf gestellt. Als Kavallerieoffizier des serbischen Königs und Tschetnik wirkt er nun doppelt deplatziert, die undurchsichtigen Entwicklungen vermag eine kurze Passage auszudrücken: "Es stank nach Angst und Tod, wir kämpften weiter gegen die Deutschen, gemeinsam mit den Kommunisten. Dann fielen uns die Kommunisten in den Rücken, und plötzlich wurden wir zu Verbündeten der Deutschen. Es war etwas Unfassbares für uns."

Für ihn, ihren Reitlehrer, hatte Veronika sieben Jahre zuvor ihren Mann verlassen. Eine militärische Verwendung von Pferden hatte sie wie alles Gewalttätige verabscheut, dennoch war sie ihm in eine Garnison an der türkischen Grenze gefolgt. In Maribor hatte sie ihn ein Jahr vor Kriegsausbruch wieder verlassen. "Heute Nacht habe ich sie gesehen, als stünde sie lebendig vor mir", lautet der erste Satz des Romans.

Die zweite Erzählerin, Veronikas Mutter, berichtet vom Verschwinden. Während Menschen zu einer Rede Titos strömen, sitzt sie am Fenster und hofft, dass ihre Tochter noch lebe. Sie lässt einem deutschen Wehrmachtsarzt schreiben, der damals oft Gast auf der Burg in Oberkrain war. Er ist der dritte Erzähler. Mit der Kriegszeit will er nichts mehr zu tun haben, doch Erinnerungen an die anmutige Veronika kommen ihm unweigerlich in den Sinn. Wie aus dem vierten und fünften Teil hervorgeht, hat der Deutsche unwissentlich eine fatale Rolle gespielt. Davon erzählen die frühere Burghaushälterin und ein alter Mann, der aus unserer Gegenwart auf seine Partisanenzeit zurückblickt.

Keine einfachen Wahrheiten

Aus fünf Perspektiven formt Drago Jancar das faszinierende Porträt einer Frau und einer Zeit. In seiner meisterhaften Sprachkunst hat der wohl bedeutendste Schriftsteller des heutigen Slowenien die adäquate Erzählanordnung gewählt. Sie ermöglicht es, unklare Situationen, helle Momente und finstere Vorfälle sowohl in persönlichen Schicksalen als auch im Politischen zu schildern. Das Private und das Gesellschaftliche, Gefühlsleben und Ideologien sind zu einem Geschehen verwoben, in dem sich niemand in Sicherheit, aufseiten der Guten wähnen kann.

Die Erzählstimmen geben fünf Sichtweisen auf die Frau und die Verhältnisse wieder. Es sind eigene Reflexions- und Sprachniveaus, die nie ins Plakative oder allzu Typische abgleiten. Für jede Figur bleiben Hintergründe und Auswirkungen oder gar Sinn einiger Ereignisse im Dunkeln. Sie ergänzen, relativieren, korrigieren sich und bilden unter Jancars feiner Feder schließlich eine Einheit.

Alle sind sie ein Teil der Geschichte der schönen jungen Frau. Alle befragen sich, zumindest implizit, nach der eigenen Schuld an den Ereignissen. Natürlich fallen die Antworten unterschiedlich aus. Das Ganze jedoch bringt zum Vorschein, wie verhängnisvoll sich Gerüchte und Fehleinschätzungen, kleine Gesten und große Rückschlüsse auswirken können. In der Betrachtung der Vergangenheit, zeigt der Roman, gibt es keine einfachen Wahrheiten.

Das ist ein Grundsatz von Drago Jancar. Mit der schwierigen Vergangenheit in seiner Weltgegend macht er es sich nicht leicht, seinem Publikum bietet er dafür ebenso sprachmächtige wie packende Lektüren. Die Nacht, als ich sie sah verknüpft Jancar mit seinem Frühwerk, indem er in einer Episode die Hauptfigur seines Romans Nordlicht kurz ins Bild rückt. Und Major Stevo erinnert an den Offizier in Der Baum ohne Namen, in dem ebenfalls einer Burg symbolträchtige Bedeutung zukommt. Dieser Roman löste in Slowenien die Debatte aus, ob denn ein Offizier der Domobranzen eine nicht nur negative Figur sein dürfe. Darauf beginnt Jancar Die Nacht, als ich sie sah, 2011 in Ljubljana erschienen, mit dem Ich eines königstreuen Serben.

Nein, die historischen Entwicklungen lassen sich nicht einfach aus einer einzigen Sichtweise angemessen verstehen – außer man will sie ideologisch interpretieren. Welch fatale Trugschlüsse aber daraus entstehen, das führt Drago Jancars großes Werk, in dem Aufklärung und Romantik vielfältig aufeinandertreffen, vor Augen. (Klaus Zeyringer, 24.8.2015)