Oben auf dem Autobahnzubringer zum Fährhafen suchen zwei Gendarmen mit Feldstechern das endlose Gewirr aus Hütten, Zelten und Plastikverhauen ab, das sich zu ihren Füßen in den Sanddünen ausbreitet. Derzeit herrscht Ruhe im "neuen Dschungel", dem wilden Lager von geschätzt 4000 Migranten aus Nordostafrika und dem Nahen Osten. Aber das ist nicht immer so.

Manchmal werfen die Flüchtlinge Reifen auf die Hochstraße außerhalb von Calais und springen dann auf die bremsenden Sattelschlepper, die nach England übersetzen. Im Frühjahr enterten sie mehrmals en masse das Hafenareal; im Juli drangen 2000 junge Männer auf das Gelände vor dem Eurotunnelportal ein, um mit dem Zug unter dem Ärmelkanal ins gelobte England zu gelangen. Kaum einem gelang es.

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Migranten in Calais stellen sich für Kleidung an, die eine NGO austeilt.
Foto: REUTERS/ Juan Medina

Das Bidonville döst in der Mittagssonne. Nur um Punkt zwölf Uhr kommt kurz Bewegung in die Elendssiedlung, als humanitäre Helfer die Pforten zur Ladestation für Handybatterien nicht schnell genug öffnen. Dutzende von jungen Männern springen über den zwei Meter hohen Metallzaun. Eine kleine Warmlaufübung für den Abend, mehr nicht. Um den Hafen und den Tunnel sind die Stacheldrahtverhaue in den letzten Monaten verstärkt, die Sicherheitsequipen aufgestockt worden. An sich ist für die Migranten kein Durchkommen mehr in Calais.

Sprung auf fahrende Laster

Deshalb ist die Ruhe im "Dschungel" trügerisch. "Die Gewalt nimmt zu", meint Ludovic Hochard von der Polizeigewerkschaft Unsa. "Die Staulage macht das Lager zu einem Pulverfass." Derzeit koste ein garantierter Sprung über den Kanal 5000 bis 8000 Euro. Bezahlen müssen die Flüchtlinge meist im Ursprungsland. Viele in Calais sind aber mittellos und können sich nur auf ihre Muskelkraft verlassen, indem sie über hohe Zäune klettern und auf anfahrende Laster hechten.

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Migranten vertreiben sich die Zeit in Calais.
Foto: REUTERS/Regis Duvignau

Zahi, der seinen Unterarm in einem brandneuen Gips des hiesigen Unispitals trägt, will trotzdem nicht von seiner England-Idee ablassen. "Dort habe ich Verwandte, dort finde ich Arbeit", sagt der junge Ägypter mit unverwüstlichem Optimismus. Wie viele gescheitert, wie viele umgekommen sind? Zahi zuckt die Schultern, ähnlich wie der Zollpolizist Hochard. Seit Juni haben die Behörden offiziell neun Todesopfer gezählt. Einen im Eisenbahntunnel. Ein Flüchtling starb, als er den Kanal durchschwimmen wollte. Wie viele es durch die Wellen versucht haben?

Die Frage stellt sich auch Marie, eine zierliche ältere Lehrerin aus einem Nachbarort von Calais. Sie gibt einigen Sudanesen Französischunterricht im "Dschungel". Das Schulzimmer besteht aus einem bloßen Holzgerüst mit wasserdichtem Überzug. Dazu ein paar Tischchen im Sandboden. "Wie in Afrika", lacht Marie, die einmal in Burkina Faso unterrichtet hatte und sich in dem nicht ungefährlichen Slum unbeschwert bewegt, obwohl sie hier die einzige weiße Frau ist. Auch Mayedin und Anoua lachen über die Bemerkung. Viel mehr Französisch verstehen die rund 20-jährigen Schüler aber nicht. Am einzigen Wandbehang prangen Buchstaben – B für Bonjour, L für Liberté, N für Nord und Non. Norden und Nein, als würden die Sudanesen erkennen, dass in Calais Endstation sein könnte, haben sie die Initiative ergriffen, um Französisch zu lernen und hier einen Asylantrag zu stellen.

Der Secours Catholique verschaffte den jungen Muslimen die Mittel für die Schulhütte und die Lehrerin. Marie erzählt den Burschen, sie habe bereits drei Afghanen die Sprache Voltaires beigebracht. Heute machen sie in Nordfrankreich eine Ausbildung als Elektriker. "England ist nicht besser", schließt Marie ihren Exkurs ab: "Wir müssen den Ankommenden klarmachen, dass hier kein Weiterkommen ist – und den europäischen Regierungen, dass sie ihre Asylpolitik aufeinander abstimmen. Sonst nimmt dieser Menschenstau noch ein böses Ende."

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Im "neuen Dschungel" entwickelt sich langsam, aber doch eine Infrastruktur. Mittlerweile gibt es eine Kirche, bestehend aus einem Zelt und einem Holzkreuz.
Foto: AP/Michel Spingler

Die französische Regierung hat die Gefahr erkannt. Sie finanziert ein Auffanglager für Frauen und Kinder am Rande des Dünenlagers. Ärzte ohne Grenzen hat inmitten der Zelte eine improvisierte Klinik eingerichtet, und die Stadt Calais hat nach einer Wasser- auch eine Stromleitung eingezogen und eine Toilettenreihe errichtet. 30 Wasserstellen ändern natürlich kaum etwas an der Misere von 4000 Bewohnern. Langsam erhält der "Dschungel" aber eine Infrastruktur. Beim Gang durch das Gassengewirr sieht man Eritreer eine Baracke bauen, während ein Syrer zwischen einem Freiluftcoiffeur und mannshohem Gebüsch einen Budenstand aus Konservenbüchsen einrichtet. Ein Zelt mit grünem Eingang ist die Moschee, eines mit einem Holzkreuz die Kirche. Quartiertreffpunkte bilden sich; das größte Zelt heißt "Afghanistan".

Laurent Roussel, Vertreter der progressiven Lokalpartei PGPC, verlangt "endlich eine einheitliche europäische Asylpolitik und ein Asylzentrum mit Filialen an den neuralgischen Punkten", auch in Calais. Er findet es inakzeptabel, hier eine Migranten-polis entstehen zu lassen, die keine Perspektiven hat und in der aus dem Elend bald kriminelle Gewalt und ethnische Spannungen entstehen werden. Roussel: "Das ist Absurdistan mitten in Europa."

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Besuch in Calais: Frankreichs Innenminister Bernard Cazeneuve (links), Premier Manuel Valls (Zweiter von links), EU-Kommissionsvizepräsident Frans Timmermans (Dritter von rechts) und EU-Migrationskommissar Dimitris Avramopoulos (Zweiter von rechts).
Foto: EPA/DENIS CHARLET

Von einer einheitlichen Asylpolitik ist Europa noch weit entfernt, zumindest aber greift es den betroffenen Mitgliedsstaaten finanziell unter die Arme. Nachdem sich EU-Kommissionsvizepräsident Frans Timmermans und EU-Migrationskommissar Dimitris Avramopoulos gemeinsam mit dem französischen Premierminister Manuel Valls am Montag vor Ort ein Bild von der Lage in Calais gemacht hatten, bewilligte die EU-Kommission 5,2 Millionen Euro Finanzhilfe für Frankreich. Damit soll in Calais bis Anfang 2016 ein Flüchtlingslager für 1500 Personen entstehen. (Stefan Brändle aus Calais, 1.9.2015)