Es war nur eine Frage der Zeit, bis EU-Mitgliedsländer in der Flüchtlingsfrage untereinander streiten: Bayern beschuldigt Österreich, Österreich wiederum Ungarn, Flüchtlinge einfach "durchzuwinken". Das "Dublin-Verfahren" zeigt anschaulich, dass es ein völlig ungenügendes Instrument ist, um in Europa angemessen und menschlich mit Asylsuchenden umzugehen. Die Politik erstarrt angesichts dieses starren Regelwerks in Hilflosigkeit. Umso schöner ist, dass in all dem Chaos auch Menschlichkeit abseits bürokratischer Erfordernisse existiert: etwa bei jenen ÖBB-Mitarbeitern und österreichischen Exekutivbeamten in Hegyeshalom, Wien und Salzburg, die in den vergangenen Tagen tausenden Flüchtlingen beim Umsteigen halfen, Frauen und Kindern Wasserflaschen reichten und den Menschen in den überfüllten Zügen freundlich zuwinkten.

ÖBB-Chef Christian Kern ist zur Mitmenschlichkeit seiner Mitarbeiter zu gratulieren – und auch dazu, dass er gegen internen Widerstand die konzertierte Hilfsbereitschaft des Unternehmens durchsetzte. Polizeisprecher Roman Hahslinger wiederum erklärte nicht unelegant, warum sich die Exekutive momentan auf die lückenlose Überwachung der Autobahnen konzentriert und nur mehr stichprobenweise der Ausweiskontrolle in Zügen widmen kann, dafür aber bemüht ist, den Flüchtlingen zu helfen.

Diese Erfahrungen der letzten Tage zeigen, dass es immer zwei Möglichkeiten gibt, Gesetze auszulegen – auf die menschliche oder auf die bürokratische Weise. Wer sich für die erste Variante entscheidet, beweist damit oft Zivilcourage und persönlichen Mut, der mitunter erst von nachfolgenden Generationen geschätzt wird – wie etwa der des ehemaligen Bundespräsidenten Rudolf Kirchschläger, der 1968 als Diplomat in Prag die Tore der Botschaft öffnete, Visa ausstellte und so tausenden Menschen den Fluchtweg in den Westen ebnete; übrigens gegen die ausdrückliche Weisung seines Vorgesetzten Kurt Waldheim, der es im Namen der österreichischen Neutralität lieber gesehen hätte, wenn Kirchschläger die tschechischen Bürger "gütlich überredet" hätte, die Botschaft wieder zu verlassen.

Diese Kirchschläger'sche Form der Menschlichkeit sprach auch Angela Merkel an, als sie auf der traditionellen "Sommerpressekonferenz" in Berlin sagte, deutsche Gründlichkeit sei "super, aber jetzt ist deutsche Flexibilität gefragt". Konkret meinte die deutsche Kanzlerin, dass es nicht sein könne, dass leerstehende Wohnungen für Flüchtlinge nicht infrage kämen, weil sie laut Bauordnung über zu niedrige Balkongeländer verfügten.

Auch hierzulande scheinen die strengen Behördenvorschriften für Flüchtlingsquartiere über alles zu gehen – sogar über die private Hilfsbereitschaft vieler Österreicher, die Flüchtlingen gerne Unterkunft geben würden, aber eben nicht über ausreichende Fluchttreppen oder sonst Vorgeschriebenes verfügen. Die Caritas berichtet auch über zahlreiche Beschwerden, weil die Behörden es schlicht ablehnen, Flüchtlinge zuzuteilen, weil deren Betreuung nicht gesichert sei – obwohl es derartige fixe Zusagen engagierter Bürger an ihre Gemeinde gibt.

Das ist, um bei der deutschen Kanzlerin zu bleiben, nicht super. Hier wäre eindeutig mehr zumindest vorübergehende Flexibilität gefragt. Wenn das die gründlichen Deutschen hinbekommen, kann das doch für "schlampige" Österreicher nicht allzu schwer sein. (Petra Stuiber, 3.9.2015)