Der Massenansturm aus Ungarn und die Tragödie von Parndorf hatten eine fatale Nebenwirkung. Jetzt nämlich redet alles nur mehr über die Schlepper und die Verteilung der Flüchtlinge in der EU. Also lauter Sachen, für die andere verantwortlich sind. Unsere eigene Verantwortung liegt aber nach wie vor beim Umgang mit den Flüchtlingen, die schon da sind und bleiben werden. Da hilft es, sich daran zu erinnern, dass die heutige Fluchtbewegung nicht die erste Völkerwanderung ist, die die Älteren unter uns erlebt haben.

Nach 1945 befanden sich allein in Deutschland rund acht Millionen sogenannte Displaced Persons. Weitere drei Millionen im übrigen Europa. Eine davon war ich. Wie ist es uns in jener Zeit ergangen? Wie ist es den anderen mit uns ergangen? Können wir aus den Erfahrungen von damals etwas für heute lernen?

Rückblende. Eine leere Fabrikhalle in Westböhmen, darin drängt sich eine Riesenmenge vertriebener Deutschböhmen aus Prag. Sie sind inmitten pogromartiger Unruhen aus ihrer Heimatstadt geflüchtet und haben neunzig Kilometer Fußmarsch hinter sich. Sie besitzen nichts als das, was sie am Leibe tragen und sind froh, nun die Stellungen der US-Army erreicht zu haben. Die macht nicht viel Federlesens. Wer von euch kann Englisch, wird gefragt. Einer meldet sich und wird sofort zum Lagerleiter ernannt. Einmal am Tag gibt es einen Kessel Suppe, und im Übrigen heißt es: Schaut, wie ihr zurechtkommt.

Und siehe da, sie kommen zurecht. Ganz gut sogar. Einer ist verantwortlich für die Sauberkeit im Lager, eine für die Kinder, einer dafür, dass das wenige Essen fair verteilt wird. Die Menschen organisieren sich selbst. Vorhandene Qualifikationen werden genutzt. Der Manager ist wieder Manager, die Lehrerin ist wieder Lehrerin. Und man hilft einander, so gut man kann.

Später in Österreich gibt es auch nicht allzu viel staatliche Hilfe für die Flüchtlinge. Aber, und das ist das Entscheidende, es gibt auch nicht allzu viele bürokratische Hindernisse, die es den Neuankömmlingen unmöglich machen, sich selbst zu helfen. Wer arbeiten kann und will, darf arbeiten. Man redet nicht viel über Integration, aber die meisten schaffen es nach einiger Zeit, wieder Boden unter die Füße zu bekommen. Ein wenig fremd fühlen sie sich immer noch, aber inzwischen hat jeder fünfte Österreicher, vom Hilfsarbeiter bis zum Millionär, Migrationshintergrund.

Und heute? Gewiss, man kann 1945 und 2015 nicht eins zu eins vergleichen. Und es macht auch einen Unterschied, ob Flüchtlinge aus europäischen oder außereuropäischen Ländern kommen. Aber wenn man aus Traiskirchen von verdreckten Toiletten und stundenlangem Schlangestehen hört, trotz großen bürokratischen Aufwands, fragt man sich schon: Traut man den Flüchtlingen gar nichts zu?

Wir haben uns daran gewöhnt, in Flüchtlingen eine eigene Menschenkategorie zu sehen. Flüchtlinge sind Flüchtlinge sind Flüchtlinge. Aber sie sind in erster Linie Maurer und Krankenschwestern und Ingenieure, die aus einem anderen Land stammen. Sie brauchen Hilfe. Vor allem aber brauchen sie Hilfe zur Selbsthilfe. So wie die vielen Österreicher, die auch einmal Flüchtlinge waren. (Barbara Coudenhove-Kalergi, 2.9.2015)