Die Flüchtlingsfrage stellt die Europäische Union vor eine beispiellose Herausforderung. Sie überschattet auch die gerade erst bewältigte Finanzkrise. War diese technisch-materieller Natur, so ist nun ein Wertekonflikt gegeben, der nicht lösbar erscheint. Sie desavouiert damit alle Instanzen, denen eine Letztkompetenz bei der Lösung von gesellschaftlichen Grundfragen zugedacht ist: die Politik auf nationaler Ebene, die EU im europäischen Staatenverbund.
Fehlender Konsens
Selten zuvor war die Bundespolitik für alles, was sie tut oder unterlässt, einer solchen Kritik ausgesetzt, und die EU-Kommission, der gewöhnlich exzessive Einmischung in nationale Angelegenheiten vorgeworfen wird, wird nun der Untätigkeit geziehen. Dabei hat sie eine Vielzahl an Lösungsvorschlägen vorgelegt, die aber durchwegs am fehlenden Konsens der Mitgliedstaaten gescheitert sind. Auch die Bevölkerung in den Mitgliedstaaten ist in dieser Frage gespalten: Der wachsenden Angst vor einer ständig anwachsenden Zuwanderung von Menschen mit unklarer Integrationsperspektive steht ein auf breiter Ebene gezeigtes Mitgefühl mit Menschen gegenüber, die ganz offensichtlich einer existenziellen Bedrohung ausgesetzt sind. Europas Wertegemeinschaft sieht sich einem Härtetest ausgesetzt – und sieht gleichzeitig am Horizont die Gefahr, dass ihre materielle Basis unterminiert wird.
Das Dilemma für die nationale Politik und die EU ist immens: Die Flüchtlingswelle an den EU-Außengrenzen zu stoppen würde den Einsatz von Mitteln und Verfahren verlangen, die politisch und menschenrechtlich nicht vertretbar wären. Die in der Vergangenheit großzügig konzipierte Asylpolitik der EU-Mitgliedstaaten geht aber von Einzelverfolgungstatbeständen aus, nicht von Massenfluchtbewegungen. Auch der im Zuge des Balkankonflikts konzipierte und sich als äußerst wertvoll erwiesen habende temporäre Schutz ist hier nicht gefragt. Der Großteil der Flüchtlinge, die jetzt nach Europa strömen, will bleiben.
Es zeigt sich, dass das einschlägige völkerrechtliche Instrumentarium, das nach dem Zweiten Weltkrieg konzipiert worden ist und auf welches gerade Europa so stolz war, versagt. Worin liegt der Grund? Diese Instrumente, insbesondere die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951, gehen von einem traditionellen, im Großen und Ganzen stabilen und geordneten Staatensystem aus, während wir gegenwärtig mit beispiellosem Zerfall staatlicher Ordnung, insbesondere in der Region der Nachfolgestaaten des Osmanischen Reiches, konfrontiert sind.
Wie schwach ausgeprägt die nationalen Identitäten in dem Raum sind, zeigt der Umstand, dass ein Gebilde wie der "Islamische Staat", der weitgehend unklare identitäre Konturen aufweist, scheinbar stabile Staatswesen in Kürze zur Auflösung bringen kann.
Das Prinzip Nähe
Kein Zweifel: Auch die soziale Wirklichkeit in Staaten wie dem Irak unter Saddam Hussein oder Libyen unter Gaddafi war von schwersten Menschenrechtsverletzungen geprägt, die mit der europäischen Werteordnung absolut unvereinbar waren. Hier kam aber ein Phänomen zum Tragen, das angloirische Politiker und Philosoph Edmund Burke (1729-1797) treffend ausformuliert hat. Angesichts der dramatischen Konsequenzen der Französischen Revolution hat er nach den Gründen gesucht, die bei schwerem menschlichem Leid zum Handeln, zur Intervention anraten. Menschliches Leid erzeugt Mitleid, wo immer es geschieht. Letztlich ist aber die Nähe (die "vicinity") für das Handeln entscheidend.
Der breitflächige Staatszerfall im Nahen Osten und in Nordafrika sowie die damit zusammenhängenden Wanderbewegungen haben zu einer völlig neuen Nähe zum Leid in dieser Region und damit zu einer Entgrenzung der Humanität geführt. Der Schutz vor Verfolgung in Europa steht damit vor einem Härtetest, für den er nicht konzipiert worden ist, dem er aber von seinem Anspruch her, im Sinne der Unteilbarkeit der Menschenrechte, standhalten muss.
Auf politischer Ebene sind die Zweifel an der Standfestigkeit dieses Systems angesichts dieser Herausforderung längst erkannt. Diesem Härtetest will sich die EU auch deshalb nicht bis zum Letzten aussetzen, da sie fürchten muss, am Ende eine zentrale Illusion zu verlieren, die maßgeblich für ihre Identität ist. Dann will sie schon lieber außerhalb ihrer Grenzen tätig werden, wenngleich sich auch dieses Vorhaben mit enormen Hürden konfrontiert sieht, allen voran einem diesbezüglichen Mandat des Sicherheitsrats, das auch entsprechend weitreichend gestaltet sein müsste. (Peter Hilpold, 3.9.2015)