Ein Kampf der Giganten bahnt sich an. Die schmale Schotterstraße auf den indischen Chang-La-Pass (5.360 Meter) ist sogar für einen Mittelklassewagen knapp bemessen. Zumindest nach europäischen Maßstäben, die man hier aber getrost vergessen kann. In engen Kurven geht es bergauf, der Ausblick in die grünen Täler ist atemberaubend.

Doch dann treffen zwei bunt bemalte Lastwägen, beide mit voller Fracht, aufeinander. Ein Gehupe beginnt, das subtile Kommunikation, nicht aggressive Rechthaberei bedeutet. Der eine presst sich im Schritttempo an der Felswand entlang, der andere wirft sich todesmutig in die Kurve über dem Abhang. Geschafft, die Fahrt kann weitergehen.

Der Chang La ist ein Gebirgspass auf 5.360 Metern Seehöhe und damit einer der höchsten befahrbaren der Welt. Er verbindet das Industal mit der Seeebene Pangong Tso.
Foto: Karin Cerny

Jetzt verstehen die Touristen, warum Guide Gyal Lotus Skila, als Buddhist die Gelassenheit in Person, mit erstaunlich strenger Miene zum frühen Aufbruch gedrängt hat. Sobald der Verkehr dichter wird, ist der Chang La in der indischen Himalaja-Region Ladakh, einer der höchsten befahrbaren Pässe der Welt, eine Herausforderung. Alle paar Kilometer stehen Verkehrstafeln mit Sprüchen, die zur Vorsicht mahnen, zwischen Verführung ("Be soft on my curves") und Drohung ("Drive like hell and you will be there"). "Die Einheimischen fahren hier auch nachts", erzählt Guide Gyal. "Die lachen, wenn Touristen Angst haben."

Eine Mondlandschaft

Das Abenteuer Ladakh beginnt bereits beim Anflug auf Leh, die Hauptstadt der Region: Durch eine enge Schlucht aus kahlen Bergen, die wie eine Mondlandschaft aussehen, manövriert sich der Flieger, um auf 3.500 Metern über dem Meeresspiegel zu landen. Die rund 27.500 Einwohner zählende Stadt ist im kurzen Sommer ganz auf Touristen ausgelegt – und hat trotzdem weitgehend ihre Eigenarten bewahrt.

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Einer der bunten Trucks, der sich die kurvige Straße hinaufquält.
Foto: REUTERS/Fayaz Kabli

Das Leben auf den vielen Märkten nimmt gemächlich seinen Lauf, alte Männer drehen versonnen ihre Gebetsmühlen, am Straßenrand wird Gemüse verkauft, und zahlreiche Exiltibetaner haben Stände auf den beliebten "Refugee Markets" aufgebaut. Möchte man tatsächlich Altwaren erstehen, dann bieten sich die vielen kleinen, dunklen Geschäfte an, die ein wenig muffig riechen und vollgerammelt sind.

Meist klettert ein freundlicher älterer Herr dann seine Regale hinauf, um einen verstaubten Schatz hervorzukramen: alte, handgefertigte Messer, Decken aus Yakwolle und viele religiös konnotierte Produkte, die bemerkenswert sind, deren Funktion sich aber oft nicht leicht ergründen lässt. In einem Shop etwa war eine alte "Schüssel" zu finden, aus der Mönche früher ihr Essen zu sich nahmen: Um sich der Vergänglichkeit ihres Seins bewusst zu werden, aßen sie aus der Schädeldecke eines menschlichen Totenkopfs.

Gelassenheit

Selbst die Händler sind buddhistisch gelassen und unaufdringlich. Das ist erfreulich, denn gerade in den schmalen Seitenstraßen von Leh gibt es viel zu entdecken. Dennoch sollte man es am ersten Tag ruhig angehen, um sich an die Höhe zu gewöhnen. Der Hals ist trocken, leichtes Kopfweh stellt sich ein, und man ringt nach Luft. Die zahlreichen Rooftop-Bars sind dann ideal, um den Blick auf das Himalaja-Massiv zu genießen.

Leh ist eine überaus gemütliche Stadt – für indische Verhältnisse fast schon verschlafen -, aber hin und wieder staut es sogar hier: wenn eine Kuh die Hauptverkehrsader überquert oder ein Lkw Probleme mit falsch parkenden Autos hat. Dann hängen die Kellner der umliegenden Dachkaffees an der Brüstung und beobachten das Hupkonzert. So viel Zeit muss sein.

Der ehemalige Königspalast in Leh.

In Leh, das wie ein einziger großer Marktplatz wirkt, ist es immer staubig. Seit Jahren wird das Zentrum umgebaut, es soll eine neue Straße zum Flanieren geben. Fraglich, ob sie jemals fertig wird, aber letztlich macht das Improvisierte ja genau den Charme dieser Stadt aus.

Über Leh thront der ehemalige Königspalast, zur selben Zeit erbaut wie in Lhasa der Potala-Palast, der ehemalige Sitz des Dalai-Lama in Tibet. Der Blick von oben auf die Stadt ist grandios, die traditionellen Lehmhäuser mit ihren kunstvoll geschnitzten Holzfenstern wirken wie aus dem Boden gewachsen. Sie fügen sich so perfekt in die Berglandschaften ein wie die zahlreichen Klöster, die etwas von gigantischen Vogelnestern haben.

Aberwitzige Landschaften

Die Lebensweise und Kultur des einstigen Königreichs Ladakh, das 1948 unter indische Verwaltung gestellt wurde, sind stark vom tibetischen Buddhismus geprägt, der tief in den Alltag der Menschen dringt. Aber im Vergleich zu Tibet ist Ladakh einfach zu bereisen, man braucht keine Bewilligung von China und hat ein reiches Angebot, was man alles unternehmen kann: von Trekkingtouren über Klosterbesuche bis hin zu Ausflügen in aberwitzige Landschaften, die wie gemacht sind für Filme.

Die beeindruckende buddhistische Tempelanlage Thiksey Gompa befindet sich nur 18 Kilometer entfernt von der ladakhischen Distrikthauptstadt Leh.
Foto: Karin Cerny

Wer von Leh zum berühmten Pangong Tso – ein auf 4.250 Metern gelegener Salzsee, der im Winter komplett zufriert – gelangen will, der muss den Chang-La-Pass passieren. Ähnlich wie bei Ausflügen ins Nubra-Tal ist es nötig, vorher eine Bewilligung über ein Reisebüro einzuholen – der östliche Teil des 150 Kilometer langen Sees liegt nämlich in China. Der Weg über den Pass ist beschwerlich, aber mindestens so faszinierend wie der entlegene See.

Erstaunlich fruchtbare Gegend

Am Chang-La-Pass liegt selbst im Hochsommer Schnee, ein eisiger Wind weht, Gebetsfahnen flattern. Moderne und Archaik prallen aufeinander, wie so oft in dieser entlegenen Gegend an der Grenze zu Pakistan und China. Einheimische füllen die Wassertanks auf, mit denen sie ihre Eselherden beladen. Motorradfahrer machen einen Halt, um sich mit heißem, süßem Milchtee zu wärmen, auch ein mutiger Fahrradfahrer hat sich in die unwirtliche Landschaft verirrt.

Bergab in Richtung Salzsee wird die Gegend erstaunlich fruchtbar: Yakherden grasen am Straßenrand, Murmeltiere beobachten neugierig die Passanten. Felsen, wüstenartige Sanddünen und grüne Wiesen wechseln einander ab. Eine ungewöhnliche Flora und Fauna voller Kontraste, wie von einem anderen Planeten.

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Der Salzsee Pangong Tso

Nach fünf Stunden Fahrt auf polternder Straße endlich am Pangong Tso: Blitzblau leuchtet der See, er reflektiert die umliegenden Berge. In improvisierten Cafés mit Plastiksesseln wartet man auf Besucher, außerdem gibt es einige Campingplätze. Wobei die Reservierung mitunter kompliziert ist, weil es hier weder Telefon noch Internet gibt. Da die meisten Besucher aber ohnehin nur eine Nacht bleiben, ist die Fluktuation groß und somit auch die Chance, einen Schlafplatz zu finden.

Der Sonnenuntergang am Pangong-See soll eine Wucht sein – falls Zeit dafür bleibt. Denn wer keine Rückenprobleme hat, kann noch am selben Tag nach Leh zurückkurven. Das ist zwar anstrengend, aber durchaus zu schaffen.

Das Ufer der Idioten

Es ist erstaunlich viel los am Ufer, zumindest dafür, wie abgelegen der See ist. "Vor 2009 hat man kaum indische Touristen hier gesehen", erzählt Gyal. "Das hat sich schlagartig durch einen Film verändert." Die Komödie "3 Idiots" war eine der erfolgreichsten Bollywood-Produktionen der letzten Jahre: Drei Schulfreunde treffen nach Jahren der Trennung wieder in Ladakh zusammen. Seitdem boomen Reisen von Indern in diese Region, die zuvor eher nur von Ausländern geschätzt wurde.

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Die Landschaft rund um den Salzsee

Indische Filmfans wollen allesamt ein Selfie an den Drehorten machen. Am Ufer, wo eine zentrale Szene gedreht wurde, sind ein paar Buben bereits in Aktion. Sie haben ihr Motorrad in die Dünen gestellt und posen wie Hauptdarsteller Aamir Khan. Sie winken auch andere Besucher herbei, damit sie ein Foto auf ihrem Bike machen können. Die Burschen gehen davon aus, dass jeder den Film kennt.

Kein Internet, nur ein Satellitentelefon

Fünf Stunden geht es über dieselbe Höhenstraße retour. Guide Gyal stellt das Bollywood-Shooting sofort auf Facebook. Auch in seinem Leben prallen Moderne und Tradition aufeinander. Im Winter, wenn kaum Touristen kommen, lebt er in einem abgeschiedenen Dorf bei seinen Eltern, die von der Landwirtschaft leben.

"Natürlich haben wir dort kein Internet", sagt er. "Es gibt im ganzen Dorf nur ein Satellitentelefon." Gut, dass er während des kurzen Sommers so vieles erlebt, das er an langen Winterabenden daheim erzählen kann. (Karin Cerny, Rondo, 11.9.2015)