Volle Lippen, ein unverschämt breites Lächeln, Zahnlücke. Georgia Jagger empfängt im China Club, dem exklusiven Hinterzimmer des Berliner Hotel Adlon, inmitten asiatischer Antiquitäten und chinesischer Kunst. Für einen mehrstündigen Interview-Marathon ist das Testimonial des Schmuckunternehmens Thomas Sabo nach Berlin geflogen – und hier in den weichen Sesseln des China Club gelandet.

Das Ambiente passt. Das weiße Spitzenkleid von Chloé auch. Es hängt an zwei dünnen Schnüren über Jaggers schmalen Schultern. Die muten mehr mädchenhaft gerundet als modelmäßig kantig an. Dazu dem Anlass entsprechend Kette, Ohrringe und ganz schön viel Klimbim um die Handgelenke. An den Füßen: Absätze, die ihre 1,70 Meter Körpergröße einige Zentimeter in die Höhe schieben. Georgia Jagger erhebt sich, ein höfliches Händeschütteln, und da ist natürlich gleich die Zahnlücke: "Möchten Sie etwas trinken?"

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Georgia Jagger bei der Präsentation ihrer ersten Kollektion für das polnische Label Reserved.
Foto: apa/dpa/düren

Ein schillernder Name

Keine Frage, die wohlerzogene 23-jährige Schönheit arbeitet gerade. Kampagnen und Interviews sind seit einigen Jahren Georgia Jaggers Geschäft. Der Einstieg in die Modelbranche? Verlief innerhalb der letzten acht Jahre reibungslos. Denn Georgia May Jagger verfügt nicht nur über das Werkzeug eines Models, über volle Lippen, breites Lächeln, Zahnlücke, sondern auch über ein Schmiermittel der Modebranche. Sie trägt im Unterschied zu vielen ihrer Kolleginnen einen schillernden Namen.

Ihr Vater ist Ober-Rolling-Stone Mick Jagger, jener charismatische, über die Bühnen zuckende Frontmann, jener Weiberheld mit den schmalen Hüften und der obszön großen Klappe. Die blonde Schönheit? Hat sie ihrer Mutter zu verdanken: Die Texanerin Jerry Hall war in den Siebziger- und Achtzigerjahren ein Supermodel. Die Gene wurden großzügig verteilt. Schwester Elizabeth? Acht Jahre älter, natürlich auch Model. Ob Georgia Jagger wohl schon als Teenager geplant hat, das Model-Erbe ihrer Mutter anzutreten?

STANDARD: Für viele junge Mädchen ist das Modeln ein Traumjob: Models reisen in der Welt herum und verdienen jede Menge Geld. Haben Sie vor zehn Jahren bereits vom Modeln geträumt?

Georgia Jagger: Nein, überhaupt nicht. Meist nehmen die Mädchen ja nur die ganz berühmten Models wahr. Dabei machen die, die das große Geld verdienen und auf den Magazincovern zu sehen sind, in dieser Branche ja nur einen sehr geringen Prozentsatz aus. Das wird gern vergessen. Ich habe das mit dem Modeln eher meiner Schwester Lizzy abgeschaut. Die war damals schon viel unterwegs.

STANDARD: Ihr erster Modeljob?

Jagger: Mit 15 für das I-D Magazine.

STANDARD: Hand aufs Herz: Haben Sie damals wie Ihre Altersgenossen die Topmodel-Formate im Fernsehen angeschaut?

Jagger: Vor Jahren habe ich mir einmal America's Next Top Model angesehen, habe das Format, das es ja in allen möglichen Ländern gibt, aber nie wirklich verfolgt. Wenn ich Zeit habe, schaue ich völlig andere Sachen. Ich stehe zum Beispiel auf Reality-Shows, in denen die Wohnungen von Messies, die die Wohnung vollgemüllt haben, aufgeräumt werden.

STANDARD: Wenn das Modeln nicht Ihr Traumberuf war, was wollten Sie denn dann werden?

Jagger: Zuerst Seiltänzerin, weil ich die Outfits toll fand. Das erklärt vielleicht auch, warum ich heute Model bin. Gescheitert ist es dann wohl am fehlenden Gleichgewichtssinn (lacht). Ballerina wollte ich auch werden, aber dafür hätte ich stundenlang die Zehenspitzen trainieren müssen. Das hätte mich schnell gelangweilt, ich brauche Abwechslung. Und ja, mit Tieren hätte ich auch gern gearbeitet. Ich mag Hunde, Katzen, Elefanten.

STANDARD: Elefanten? Schon einmal auf einem gesessen?

Jagger: Nein, das noch nicht.

Das Model mit der Zahnlücke auf dem Laufsteg von Chanel.
Foto: Invision

Keine Fragen zu den Eltern

Immerhin, Georgia Jagger hat Humor. Zu den Eltern, insbesondere zu Vater Mick Jagger, darf sie in Interviews nicht befragt werden. Dafür sorgt die PR-Frau, die neben ihr sitzt. Vielleicht hat Georgia Jagger Fragen zum Vater mittlerweile auch gar nicht mehr nötig. Die arbeitsame 23-jährige Britin unterschrieb mit 16 angeblich gegen den Willen von Papa Mick ihren ersten Model-Vertrag. Diese Hartnäckigkeit hat sich ausgezahlt. In den letzten Jahren hat sie sich mit ihrer Zahnlücke und den blonden Bardot-Wellen in der Branche einen eigenen Namen gemacht. Und sie ist nicht das einzige Model, das aus seiner prominenten Startposition etwas macht.

Die Töchter der ersten Supermodel-Generationen, die in dem Job bereits gutes Geld verdient haben, erobern das Business – und zwar reihenweise. Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Celebrity-Ableger wie Georgia Jagger können zu Karrierebeginn auf die Erfahrungen und Kontakte der glamourösen Mütter setzen. Und die Modelagenturen? Dürfen von Anfang an schillernde Namen verwerten.

Pat Clevelands Tochter Anna zum Beispiel war gerade erst auf dem Cover der italienischen Vogue zu sehen, Lily-Rose, die 16-jährige Tochter von Vanessa Paradis und Johnny Depp, führt die Chanel-Verpflichtung der Mutter fort. Der jüngste Stern am Himmel der Nachwuchsmodels: Kaia Gerber, 14-jährige Tochter von Cindy Crawford. Sie ist das Ebenbild der Mutter – minus Muttermal. Der Teenager, zehn Jahre jünger als die Jagger, hat auf Instagram schon 156.000 Follower. Georgia 660.000. Lily-Rose Depp sogar noch mehr, nämlich 679.000.

STANDARD: Models gelten heute mehr denn je als Stars. Auch in den Social-Media-Kanälen. Haben Sie eigentlich mehr weibliche oder mehr männliche Fans?

Jagger: Das meiste Feedback kommt von jungen Mädchen. Ich bekomme allerdings auch weniger klassische Fanpost als Nachrichten auf Instagram. Die sind dafür echt toll. Die Mädchen schreiben Sachen wie "Ich mag deine Zähne" und "Dass du mit der Zahnlücke so erfolgreich bist, macht mich selbstbewusster".

STANDARD: Sie sind wohl ein Vorbild für die Mädchen?

Jagger: Vielleicht – so wie meine Zähne.

STANDARD: Wie relevant ist denn Instagram heute für den Erfolg eines Models?

Jagger: Solche Social-Media-Kanäle sind verdammt wichtig geworden. Ich finde das völlig verrückt. Viele Models verweigern sich Instagram ja auch. Meine Mutter zum Beispiel. Oder Kate Moss. Und das macht sie nicht weniger relevant. Ich finde ja, dass wir das ganze Konzept der Internet-Celebritys überdenken sollten. Instagram beginnt nämlich mittlerweile auch für viele andere Beteiligte in der Modebranche eine Belastung zu werden. Haarstylisten und Visagisten beispielsweise werden für Jobs zunehmend hinsichtlich ihrer Relevanz auf Instagram statt nach ihren eigentlichen Qualitäten, ihrer Arbeit, verpflichtet. Es ist traurig zu sehen, dass es oft nicht in erster Linie ums Talent geht.

STANDARD: Checken Sie denn regelmäßig Ihr Intagram-Profil?

Jagger: Na ja, mal mehr, mal weniger.

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Georgia May Jagger ist häufiger in Werbekampagnen als auf dem Laufsteg zu sehen: Hier posiert sie für das Schmucklabel Thomas Sabo.
Foto: Jim Ross / Invision / AP

Sie mag auf Instagram neue Haarfarben und Kampagnenbilder zeigen, mit ihrem Privatleben hält Georgia Jagger es ähnlich wie ihre Eltern. Das versucht sie unter Verschluss zu halten. Und eine Überzeugungstäterin in Sachen Social Media, so wie ihre langjährige Modelfreundin Cara Delevingne, die Queen of Instagram mit sagenhaften 17 Millionen Abonnenten, ist Jagger erst recht nicht. Auch sonst unterscheidet sie einiges von ihrer Londoner Schulfreundin.

Georgia Jaggers Modeldomäne ist weniger der Laufsteg als die Kampagne. Der 23-Jährigen fehlt das Knochige, das Kantige und die Größe, die die meisten Laufstegmodels auszeichnet. Ihre Auftraggeber sind sowieso vor allem in die Mitgift des Vaters, die kleine Zahnlücke, die signifikanten Wangenknochen, die vollen Lippen vernarrt: Georgia Jagger wird nicht ohne Grund so oft mit lasziv geöffnetem Mund abgelichtet.

Das Geschäft läuft. Seit 2014 ist sie das Testimonial von Thomas Sabo. Gerade löste sie Cara Delevingne als Kampagnenmodel für das britische Unternehmen Mulberry ab, außerdem posiert sie für Sonja Rykiel. Im Frühjahr modelte das Dreiergespann Jerry Hall, Lizzy und Georgia Jagger ausnahmsweise Seite an Seite für das polnische Label Reserved.

STANDARD: Ihre Familie vereint mit Ihrer Mutter, Ihrer acht Jahre älteren Schwester und Ihnen mittlerweile nahezu drei Modelgenerationen. Wie hat sich die Branche verändert?

Jagger: Als meine Mutter in den Siebziger- und Achtzigerjahren gemodelt hat, haben viel weniger Frauen als Model gearbeitet. Das war völlig anders als heute. Heute werden die angesagten Gesichter ständig ausgetauscht. Meine Schwester hat dann in den späten Neunzigern mit dem Modeln begonnen, selbst damals lief das Modeln in den Shows noch unbeschwerter ab. Heute ist das Geschäft wesentlich schneller, es gibt ständig neue Kollektionen, es geht vor allem ums Geld. Die Branche ist heute viel businessorientierter.

STANDARD: Auch Sie sind als Model Geschäftsfrau. Beraten Ihre Eltern Sie eigentlich?

Jagger: Nein, zumindest war meine Mutter nie eine ehrgeizige Eislaufmutter, die unter Kontrolle haben wollte, was ich tue.

Mutter & Tochter

Wie die Mutter, so die Tochter: Vielleicht kann Jerry Hall ja so entspannt mit der Karriere ihrer Tochter umgehen, weil sie nichts mehr umhaut. Die heute 59-Jährige rutschte auch mit 16 ins Business. Die Voraussetzungen aber waren komplett anders. Denn Jerry Halls Geschichte liest sich wie ein Aufsteigermärchen.

Anfang der Siebziger entflieht die 16-Jährige mit 800 Dollar in der Tasche einem kleinen texanischen Kaff. Ihr Ziel: die Modehauptstadt Paris. Mit im Gepäck der 1,83 Meter großen Schönen: der unbedingte Wunsch, Model zu werden. Es kommt, wie es kommen muss. St. Tropez: Hall investiert das letzte Geld in einen Häkelbikini und High Heels. Und wird an der Riviera entdeckt. Schnell ist die junge Texanerin mehr als irgendein Model.

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Jerry Hall und Georgia Jagger.
Foto: apa/epa/shaw

Helmut Newton knipst sie, es folgen unzählige Magazin-Cover. Dann New York. Da tobt Ende der Siebziger gerade der "Model War" zwischen Eileen Fords alteingesessener Agentur und John Casablancas' Elite Models. Casablancas ist der Erste, der Models konsequent als Medien-Persönlichkeiten aufbaut, sie Interviews geben lässt. Und Jerry Hall? Profitiert von den rasant ansteigenden Honoraren, sie gehört zur ersten Generation "Supermodel".

Dass sie erst Freundin von Bryan Ferry und dann Ehefrau von Mick Jagger ist, macht sie nur noch glamouröser. Finanziell aber ist sie unabhängig. Und Georgia? Die hätte das Modeln als Tochter von Jagger und Hall sicher nicht nötig. Doch in Sachen Ehrgeiz scheint sie der Mutter, wenn auch um einige Zentimeter kleiner als diese, nicht nachzustehen.

STANDARD: Momentan modeln Sie mehr für Kampagnen als auf dem Catwalk. Wie unterscheidet sich das Modeln hier und dort?

Jagger: Für Kampagnen gibt's vor allem ordentliches Geld (lacht). Nein, im Ernst: Auch Laufsteg ist natürlich nicht gleich Laufsteg. Eine Chanel-Show ist natürlich immer ein aufregendes Großprojekt. Ich übernehme aber auch gerne Laufstegjobs für Designer, denen ich mich verbunden fühle. Für Ashley Williams in London zu laufen bedeutet für mich in erster Linie Spaß. Da durchlaufe ich vorher auch keine Castings. In anderen Fällen habe ich auch Kampagnen gemacht, weil ich nicht groß genug für die Shows war.

STANDARD: Sie sind mit 1,70 Meter Körpergröße tatsächlich vergleichsweise klein für die Branche. Wie wichtig ist denn heute auf den Laufstegen noch die Größe eines Models? Ist sie immer noch ein bestimmender Faktor?

Jagger: Das ist unterschiedlich. In Städten wie New York und Mailand geht es während der Modewochen auf dem Laufsteg darum, dass die Models in einer einheitlichen Linie erscheinen, die Models also in etwa gleich groß sind. In London stehen eher Persönlichkeiten und der individuelle Look im Vordergrund. Es geht mehr darum, dass du in den Kleidern gut aussiehst, als dass die Kleider an dir gut aussehen.

STANDARD: Apropos Persönlichkeit: Sie sind bekannt für Ihre Zahnlücke, Cara Delevigne für ihre Augenbrauen. Wie wichtig sind solche vermeintlichen "Makel" als Alleinstellungsmerkmale für ein Model?

Jagger: Die Mode wäre wohl langweilig ohne solche individuellen Looks. Als ich begonnen habe, gab es weit und breit keine Zahnlücke, nach meinem Durchbruch hatten jede Menge Models eine Lücke zwischen den Zähnen. Die Zahnlücke wurde unter Models so etwas wie ein Trend.

STANDARD: Der Catwalk ist für ein Model so etwas wie ein Liveauftritt. Was ist auf dem Laufsteg eigentlich am herausforderndsten?

Jagger: Das Laufen (lacht). Das Problem sind eigentlich immer die High Heels. Die sind oft ziemlich wackelig. Die meisten Schuhe auf dem Laufsteg bestehen aus einem dünnen, schwindelerregend hohen Absatz, der gerade einmal von einer schmalen Kette um die Fessel gehalten wird. So wie das hier ... (Georgia Jagger streckt den Fuß vor und hält eine der dünnen Sabo-Armbänder an ihre Fessel.) Zum Glück gibt es aber gerade viele Designer, die flache Schuhe bevorzugen. Wie Chanel zum Beispiel.

STANDARD: Sie tragen gerade aber auch sehr hohe Schuhe – und das ganz freiwillig ...

Jagger: Ja, aber ich bevorzuge ganz offensichtlich stabile Blockabsätze. Mit denen gibt's keine Probleme. (Anne Feldkamp, Rondo Exklusiv, 28.9.2015)

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Georgia Jagger bei den Filmfestspielen in Cannes.
Foto: AP