Möglichkeiten scheinen heutzutage endlos oder gar nicht vorhanden. Beraterin Barbara Heitger sagt über Entscheidungen: "Gut ist ist, wenn man sie bewusst trifft – und unbewusst auf ihre Richtigkeit vertraut."

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STANDARD: Was macht Entscheidungen manchmal so schwierig?

Heitger: Dass man mit jeder größeren Entscheidung eine Wahl trifft, deren Ende man nicht kennt. Das gilt für die Entscheidung für einen Job, eine Stadt, einen Partner ebenso wie für Unternehmensstrategien. Man scheidet damit auch andere Möglichkeiten aus, daher auch der Begriff "ent-scheiden". Heute fallen Entscheidungen oft noch schwerer als früher.

STANDARD: Warum?

Heitger: Weil die Zukunft heute noch schwerer einzuschätzen ist. Vor einem Jahr hätte niemand die heutige Flüchtlingssituation vorhersagen können, und es hätte auch niemand vor fünf Jahren richtig vorhergesagt, was mit Griechenland passieren würde. Wenn ich mich vor zwanzig Jahren dazu entschieden habe, für eine Bank zu arbeiten, wäre das ein Job fürs Leben gewesen. Heute muss man damit rechnen, dass die Wahrscheinlichkeit, den Job zu behalten, nicht extrem hoch ist. Unternehmen wiederum können ihre Märkte kaum vorhersagen oder die Entwicklung ihres Geschäftes über Strategien wenig steuern. Alles ist viel volatiler geworden.

STANDARD: Was steckt dahinter? Megatrends wie Globalisierung, Digitalisierung?

Heitger: Die Globalisierung führt dazu, dass Märkte immer enger zusammenrücken. Und die Digitalisierung multipliziert die Wirkung noch mal. Aber auch die Dominanz des Finanzmarktes spielt eine Rolle – er bestimmt die Wirtschaft in hohem Ausmaß mit. Das sind die drei großen Ströme, die nicht nur Branchen radikal verändern, sondern die auch jeder Einzelne spürt. Sie machen Entscheidungen viel anspruchsvoller.

STANDARD: Wenn die Zukunft immer schlechter vorhersagbar ist, werden Bauchentscheidungen dann wichtiger?

Heitger: Sigmund Freud hat einmal gesagt: Die kleinen Entscheidungen kannst du rational mit Pro-und-Kontra-Listen treffen, die großen Entscheidungen triff bitte mit Kopf, Bauch und Herz. Entscheidungen sind dann richtig, wenn man sich sicher ist: Diese Entscheidung stimmt für mich.

STANDARD: Weiß man das denn immer so genau?

Heitger: Große Entscheidungen brauchen natürlich auch Reifezeit, man muss experimentieren.

STANDARD: Experimentieren. Wie und womit?

Heitger: Indem man sich fragt: Welche Zukunft wünsche ich mir und ist mir wichtig? Zweitens, sich mit Personen zu vernetzen, die in ähnlichen Situationen waren. Über sie kann man in Erfahrung bringen, worauf es ankommt. Wenn man sich beispielsweise für oder gegen ein Assignment in Japan entscheiden muss, wäre es klug, Menschen zu fragen, die dort waren: Wie ist es? Was würdest du gleich, was würdest du anders machen? Der dritte Schritt: sich mit Freunden und Familie austauschen. Der vierte Schritt kann sein, etwas in die Richtung auszuprobieren, etwa nach Japan zu fliegen, um zu sehen, wie es einem dort überhaupt gefällt. Abschließend sollte man sich auch Zeit nehmen, um über all diese Inputs in Ruhe nachzudenken, also Räume der Ruhe, wo man allein ist. Dann kann alles gut auf einen einwirken.

STANDARD: Wie groß ist die Gefahr, dass Rationalität und Sicherheit bei diesen "Herzensentscheidungen" überhandnehmen?

Heitger: Verführungen gibt es immer. Viele entscheiden sich eher für das bekannte Unglück als für das unbekannte Glück, wie Shaw sagte. Sich eher für einen ungeliebten Job zu entscheiden, mit dem man seine Kinder ernähren kann, also für einen Kompromiss, hat aber ebenso Berechtigung.

STANDARD: Was hilft gegen Nachentscheidungsdissonanzen?

Heitger: Ich weiß gar nicht, ob dagegen überhaupt etwas helfen muss. Wir können nicht immer wissen, was das Richtige für alle Zeit ist, aber zumindest, was der nächste bessere Schritt ist. Und manchmal ist es auch sinnvoll, über diesen nächsten besseren Schritt zu entscheiden – und erst dann weiterzuüberlegen. Das gilt für Individuen ebenso wie für Unternehmen, NGOs oder Parteien. Wichtig ist aber auch, zu wissen, wer man im Grunde sein möchte, was den eigenen Kern und eigene Werte ausmacht – damit man nicht überflexibel wird. Das sind große Fragen, aber sie helfen, sich bei den Turbulenzen rundherum, zurechtzufinden.

STANDARD: Wie können sich Unternehmen über diese Fragen klar werden?

Heitger: Wichtig: Sie müssen Prozesse der Strategiearbeit neu gestalten. Früher haben Abteilungen mit Externen Konzepte entwickelt, die dann den Mitarbeitern kommuniziert wurden. Das geht heute nicht mehr, weil Märkte sehr volatil sind. Da muss man strategische Experimente wagen, zum Beispiel indem man Empowerment und Responsiveness verbindet, mehr Entscheidungen von Mitarbeitern nah am Markt treffen lässt.

STANDARD: Wie es etwa das Modell der Holacracy vorsieht?

Heitger: Genau das ist ein, zwar von vielen idealisiertes, aber in meinen Augen sehr interessantes Modell, weil das Wissen unterschiedlichster Mitarbeiter schnell genutzt werden kann. Die Mitarbeiter können diese marktnahen Entscheidungen aber natürlich nur treffen, weil sie den Kern des Unternehmens kennen. Dazu braucht es einen vom Management vorgegebenen Rahmen. Immer wichtiger wird also die Frage des kreativen Organisationsdesigns. Wenn die Märkte sich so schnell verändern wie anfangs beschrieben, dann müssen auch die Unternehmen schneller antworten. Da braucht es noch viel mehr Innovationsfreude. (Lisa Breit, 29.9.2015)