Viktor Orbán war in Wien und hat mit Kanzler und Vizekanzler gesprochen. Es gab Dringliches zwischen Österreich und Ungarn zu besprechen, über Orbáns Vorgehen in der Flüchtlingsfrage war es zu scharfen Kontroversen zwischen ihm und Werner Faymann gekommen, zuletzt am EU-Gipfel diese Woche. Nachbarn müssen miteinander auskommen, so gut es geht, was allerdings schwierig ist, wenn der eine Nachbar eine ganz andere Agenda hat.

Die ist allerdings inzwischen ganz klar zu erkennen, und sie lautet: Viktor Orbán will die Flüchtlingsfrage benutzen, um nicht nur in Ungarn seine autoritär-nationalistische Herrschaft zu festigen, sondern um in der ganzen EU das Prinzip der liberalen Demokratie auszuhebeln. Das ist eine Linie, die man aus seinen Handlungen und Reden klar verfolgen kann, und zwar schon Jahre zurück. Leider wollen das deutsche und österreichische Konservative nicht wahrhaben, wie der bayrische Ministerpräsident und CSU-Chef Horst Seehofer und diverse ÖVP-Politiker, zuletzt Vizekanzler Reinhold Mitterlehner. Seehofer lud Orbán ein, um Merkels Flüchtlingspolitik zu konterkarieren; Mitterlehner sagte in einem Interview mit der Presse: "So unrecht hat Orbán ja nicht. Wenn er meint, dass die EU ihm sagen soll, was sie eigentlich von ihm will" (in der Flüchtlingsfrage).

Das ist eine schwere Fehleinschätzung von Mitterlehner. Orbán tut nur so, als sei er verwirrt über die EU-Linie, um die Schuld abschieben zu können. Er hat die EU-Regeln für Asyl schon vor drei Monaten einseitig suspendiert. Er kümmert sich nicht um Schengen, Dublin II und Ähnliches. Er war aber auch nicht auf den sich abzeichnenden Ansturm vorbereitet. Zuerst wollte er die Asylsuchenden ganz abhalten, als das nicht gelang, ließ er sie elend behandeln und dann plötzlich massenweise nach Österreich weiterschieben. Den Versuch eines EU-gerechten Vorgehens, nämlich die Leute zunächst zu registrieren, hat er nicht unternommen. Inzwischen lässt er Zäune nicht nur zu Serbien, sondern auch zu EU-Partnern wie Slowenien, Kroatien und Rumänien bauen. Man kann nur den Schluss ziehen, dass er bewusst ein Chaos entstehen lassen wollte.

Ungarn war/ist in einer besonders schwierigen Lage. Aber Orbán hat, wie gesagt, eine eigene Agenda. Die hat er vor einigen Wochen in einer zunächst nicht veröffentlichten Rede vor Parteifreunden am Plattensee offenbart: Das Problem sei der "Liberalismus" in Europa, von dem auch die konservativen Parteien angesteckt seien. Die Flüchtlingskrise sei nun die Gelegenheit, damit, und mit dem Prinzip der Menschenrechte, Schluss zu machen und ein Gegenmodell eines antiliberalen, nationalistischen Europa durchzusetzen.

Konkret sagte er: Die Krise "bietet die Chance für die national-christliche Ideologie, die Vorherrschaft wiederzugewinnen, nicht nur in Ungarn, sondern in ganz Europa. Das ist die Gelegenheit ... Meine Position ist, dass wir das Ende einer Ära erleben: einer konzeptuell-ideologischen Ära. Wir können die einfach die Ära des liberalen Geschwätzes bezeichnen. Die Ära geht nun zu Ende, und diese Situation trägt ein großes Risiko wie auch eine große Gelegenheit mit sich." Und: "Ich bin überzeugt, dass es nicht mehr möglich ist, dass die Europäer sich selbst als gut im liberalen Sinn sehen und gleichzeitig im Wohlstand leben ... Es ist nur eine Frage der Zeit, bis jemand kommt, unsere Schwäche bemerkt und uns wegnimmt, was wir haben".

Er machte klar, dass er damit die Muslime meint. Und dass er bei dieser neuen Politik in Europa auf den Aufstieg von Rechten wie Marine Le Pen, Heinz-Christian Strache und andere setzt. Das ist einer der Gründe, warum der europäische Thinktank ESI (European Stability Initiative), dessen Leiter Gerald Knaus kürzlich bei Armin Wolf einen eindrucksvollen Plan für die Flüchtlinge in der Ägäis vorlegte, Orbán als "den gefährlichsten Mann der EU" bezeichnet.

Knaus weist auch auf eine Grundsatzrede hin, die Orbán vor einem Jahr im ehemals ungarischen Gebiet in Rumänien (!) hielt (die auch in dieser Kolumne behandelt wurde, die Reden sind auf Englisch unter ministerelnok. hu abrufbar). Dort erklärte er, dass aus Ungarn ein "illiberaler Staat" werden solle, und verkündete seine Bewunderung für autoritäre Herrscher wie Wladimir Putin, die chinesischen Führer, Tayyip Erdogan und sogar den düsteren Alijew in Aserbaidschan.

Orientalische Despotien als Vorbilder für Ungarn und Europa! Weit gebracht, Herr Orbán. Und vielleicht doch ein Weckruf für europäische Christdemokraten, die Orbán fälschlich für einen der ihren halten und nicht merken, dass sie sich mit einer autoritären Figur wie aus den Dreißigerjahren freundschaftlich abgeben. (Hans Rauscher, 25.9.2015)