Schriftstellerin Jenny Erpenbeck: "Die von vielen befürchtete Veränderung Europas tritt nicht dadurch ein, dass so viele Menschen aus anderen Ländern zu uns kommen, sondern dadurch, dass die Europäer mit so drastischen Maßnahmen auf den Ansturm reagieren."

Foto: Katharina Behling

STANDARD: Frau Erpenbeck, für Ihren neuen Roman über die Begegnung des emeritierten Altphilologen Richard mit in Berlin gestrandeten Flüchtlingen aus Afrika haben Sie umfangreiche Recherchen betrieben. Wie tief haben Sie sich eingelassen auf diese Menschen?

Erpenbeck: Anderthalb Jahre lang habe ich ungefähr zehn Flüchtlinge begleitet. Ich habe mit ihnen Gespräche geführt, ihre Umzüge mitgemacht, war mit ihnen auf Ämtern, bei Ärzten und Rechtsanwälten. Wir haben auch zusammen gekocht, gegessen, Musik gemacht. Ich wollte wissen, wer diese Männer sind und wie sie damit umgehen, dass sie in Deutschland nicht arbeiten dürfen, und womit ihre Tage vergehen. Diese Leben sind von einem tiefen Ernst geprägt. Für jemanden, der einen Krieg hinter sich hat, dessen Familie vielleicht ermordet wurde, der selbst Verfolgungen erlebt hat und traumatisiert ist, ist es bitter, wenn er mit Polizeigewalt zum Verlassen eines Heims gezwungen wird.

STANDARD: Wandelt sich der Blick auf die Welt und das eigene Leben?

Erpenbeck: Man wird auch sein eigenes Studienobjekt. Ich habe mit diesen Männern über den Verlust ihrer Heimat gesprochen, über den Tod von Familienmitgliedern, über Situationen großer Angst. Und dann bin ich in meinen deutschen Alltag zurückgekehrt, in meine Wohnung mit Park vor der Tür und klassischer Musik aus dem Radio. Das ist mir dann alles plötzlich sehr fremd vorgekommen. Unsere Welt sieht in den Augen dieser Menschen wie eine ganz andere Welt aus.

STANDARD: Wie erfolgte die literarische Umsetzung dieser Erfahrungen?

Erpenbeck: Einerseits gibt es die große Erzählung der Jetztzeit – das, was sich zwischen Richard, der Hauptfigur, und den Flüchtlingen abspielt. Das ist der freie, rein literarische Teil der Handlung. Andererseits gibt es die in die Handlung eingeschlossenen Flüchtlingsgeschichten, an denen ich so wenig wie möglich geändert habe. Das authentische Material ist etwas, das mich selbst sehr berührt, deshalb versuche ich, es auch so an den Leser weiterzugeben. Manchmal gab es ein Stocken, einen Punkt, über den der Erzähler nur schwer hinwegkam, es gab Schlüsselsätze, die immer wiederholt wurden, wenn es um die Beschreibung von Situationen ging, in denen die Erinnerung an Ängste und Panik wieder hochkam. Manches blieb auch unerzählt, weil es einfach nicht ausgesprochen werden konnte. Einer der Flüchtlinge, der beim Kentern des Schiffs seine beiden Kinder verloren hatte, sprach tatsächlich nicht mehr von ihnen. Für mich war das so erschütternd, weil ich merkte, dass er nicht aussprechen konnte, was passiert war.

STANDARD: "Wohin geht ein Mensch, wenn er nicht weiß, wo er hingehen soll?", lautet ein besonders herausgehobener Satz von vielen in Ihrem Roman, die zum Nachdenken herausfordern ...

Erpenbeck: Ich fange immer dann zu schreiben an, wenn ich mit einer Frage, die sich mir stellt, nicht fertigwerde, wenn ich keine Lösung habe. Auch jetzt kommt bald wieder ein Winter. Wo werden all diese flüchtenden Menschen hingehen?

STANDARD: Ihrem Roman vorangestellt haben Sie ein Zitat des Physikers Wolfgang Pauli: "Gott schuf das Volumen, der Teufel die Oberfläche."

Erpenbeck: Das ist ein großartiger Satz über den Unterschied zwischen dem, was man sieht, und dem, was unter der Oberfläche verborgen ist. In meinem Buch gibt es das Nachdenken darüber in Bezug auf viele verschiedene Dinge: angefangen bei der Hautfarbe der Flüchtlinge, aber auch in Hinsicht auf ihre unterdrückte Existenz mitten in unseren Städten. Oder – andersherum – auch bei ihrem Bemühen darum, sich in die Systeme einzupassen, obgleich sie so viele Geschichten mit sich herumtragen, die nicht bewältigt werden können.

STANDARD: Auch der Professor trägt an seiner Vergangenheit. Will er an den Männern gutmachen, worin er in seinem Leben gefehlt hat? Die jungen Afrikaner könnten seine Söhne sein ...

Erpenbeck: Richard befindet sich an einem Punkt seines Lebens, an dem manches plötzlich eine andere Präsenz bekommt. Er hat vieles in seinem Unterbewusstsein, mit dem er nicht fertiggeworden ist und das nun nach oben kommt. Er ist mit der eigenen Endlichkeit konfrontiert, und so fragt er sich auch, wie man etwas an die nächste Generation weitergibt. Warum sollte diese nächste Generation nicht aus jungen Menschen anderer Länder bestehen? Er hat die Distanz, aber auch die Neugier des Wissenschafters – und einen Pragmatismus des Helfens, dessen Wurzeln wahrscheinlich im europäischen Christentum liegen. Richard hilft einfach, wenn er sieht, dass etwas zu tun ist.

STANDARD: Damit endet Ihr Roman zwar nicht gut, doch hoffnungsvoll. Ist dieses Ende Utopie, oder sind Sie zuversichtlich, dass "Die Welt zu Gast bei Freunden" sich als Lösungsweg des Flüchtlingsproblems erweisen wird?

Erpenbeck: Natürlich ist das eine Utopie. Es ist eine Lösung, die keine ist, weil es eine private Lösung ist, obgleich eine gesamtgesellschaftliche angebracht wäre. Dass die Menschen auf Matratzen bei uns im Wohnzimmer liegen, kann keine Lösung sein. Die Menschen, die hierbleiben wollen, müssen die Möglichkeit erhalten, sich eine Existenz zu gründen. Nur so können sie auch zu unserer Gesellschaft etwas beitragen.

STANDARD: Sowohl die Heimleiter als auch die Rechtsanwälte und sogar die Polizei verhalten sich in Ihrem Roman durchaus wohlwollend, und dennoch kommt keine befriedigende Lösung zustande.

Erpenbeck: Alle Solidarität und alles Wohlwollen führen nicht dazu, dass die Menschen hier selbstständig überleben können. Jemand, der über Italien nach Europa gekommen ist und dort als Flüchtling anerkannt wurde, hat zwar das Recht, sich innerhalb eines halben Jahres drei Monate in Deutschland aufzuhalten. Aber das Gesetz verbietet ihm, hier zu arbeiten. Auch so ein Gesetz kann also eine Grenze darstellen. Gesetze sind aber nicht gottgegeben, sondern von Menschen gemacht, sie können – und müssen! – also geändert werden, wenn sie einer Situation nicht mehr angemessen sind.

STANDARD: Würde die Erteilung einer Arbeitserlaubnis das Flüchtlingsproblem mindern?

Erpenbeck: Auf jeden Fall. Die sogenannten "Illegalen" sind hochmotiviert und wären stolz, wenn sie ihr Leben selbst finanzieren könnten. Sich ohne Arbeit durchzuschlagen ist extrem hart, eigentlich unmöglich. Sollen denn die, die eine Überfahrt in einem Schlepperboot oder einen Transport über Land überlebt haben, vor unserer Haustür verhungern?

STANDARD: Sind die Flüchtlinge eine Chance für Europa?

Erpenbeck: Viele von denen, die gerade jetzt zu uns kommen, sind auf der Flucht vor einer realen Lebensgefahr: vor dem Krieg in ihrer Heimat. Sie werden sicher, sobald es möglich ist, in ihre Länder zurückkehren. Die anderen, die hierbleiben wollen, für kürzere oder längere Zeit, sehe ich als Chance für uns hier. Wir wissen doch, dass die Bevölkerung der europäischen Länder immer älter wird, dass Fachkräfte fehlen, dass immer mehr Lehrstellen unbesetzt bleiben. Es wäre sinnvoll, langfristig zu planen: Menschen in Sprachkurse und Ausbildungen zu schicken.

STANDARD: Mehrmals in Ihrem Roman lassen Sie die Erinnerung an europäische Vergangenheiten, die geprägt waren von Flucht und Vertreibung, aufblitzen ...

Erpenbeck: Ich denke da nicht nur an die Flucht der jüdischen Menschen in der Zeit des Nationalsozialismus, sondern auch an die Auswanderung der Europäer nach Amerika. Aus heutiger Sicht würde man diese Menschen als Wirtschaftsflüchtlinge bezeichnen. Aber dass Menschen sich auf der Suche nach Arbeit und besseren Lebensbedingungen über die Erde bewegen, geschieht seit Jahrhunderten.

STANDARD: Ilija Trojanow wies darauf hin, dass die Globalisierung nur Freizügigkeit des Kapitals bedeute ...

Erpenbeck: Ja, genau. Und wenn dann, nicht zuletzt infolge dieser internationalen Kapitalbewegungen, andererseits Menschen zur Flucht gezwungen sind und versuchen, ihr Leben zu retten, gelten da plötzlich nationale Gesetze, die dies verhindern.

STANDARD: Wenn Europa weiterhin keine Initiativen zugunsten der Menschen auf der Flucht ergreife, könne die Lage sich nur verschärfen, meinte Elfriede Jelinek. Teilen Sie diese Einschätzung?

Erpenbeck: Es könnte der Fall eintreten, dass wir gar nicht mehr so gelassen darüber zu entscheiden haben, ob wir das möchten oder nicht. Die Menschen sind ja bereits da. Europäische Politiker fordern oft, dass andere Länder unsere Werte übernehmen sollen, aber jetzt geht es darum, ob es uns selbst gelingt, diese Werte aufrechtzuerhalten. Toleranz, Respekt vor dem Menschen, Hilfe für Opfer von Gewalt. Die von vielen befürchtete Veränderung Europas tritt doch nicht dadurch ein, dass so viele Menschen aus anderen Ländern zu uns kommen, sondern dadurch, dass die Europäer mit so drastischen Maßnahmen auf den Ansturm reagieren.

STANDARD: Zum ersten Mal seit der Spaltung Europas in Ost und West gibt es wieder Zäune in Europa ...

Erpenbeck: Zäune sind etwas Absurdes. Sie schieben manches aus dem Blickfeld, aber das heißt ja nicht im Geringsten, dass das Problem damit gelöst wäre. Die Errichtung eines Zauns bedeutet, dass es einem egal ist, wenn die Menschen jenseits der Zäune zugrunde gehen. Aber was ist aus uns geworden, wenn uns das egal ist? Zäune werden nur den Schleppern Kundschaft zutreiben, denn ein Verzweifelter, der existenziell bedroht ist, wird immer versuchen, so einen Zaun zu überwinden – egal wie.

STANDARD: Die Schweiz wurde nach dem Zweiten Weltkrieg für den Satz "Das Boot ist voll" heftig kritisiert. Jetzt hört man diesen Satz wieder ...

Erpenbeck: Wir sind ein hohes Niveau an Wohlstand gewöhnt. Aber ich sehe durchaus, dass wir teilen können, vielleicht weil ich aus der DDR stamme. Im Osten, wo nicht immer alles perfekt sein musste, sah man, dass das Leben auch mit weniger Aufwand ganz gut funktioniert. Interessant ist, dass die Instrumentalisierung des Begriffs "Freiheit" jetzt so erkennbar wird. Als die DDR-Grenzen aufgingen, wurden alle, die aus dem Osten kamen, mit großer Rührung empfangen. Es wäre schön, wenn es die sogenannte "Reisefreiheit" in gleicher Weise nun auch für die Menschen aus Afrika und Asien, die heute in unsere Freiheit hineinwollen, gäbe. (Ruth Renée Reif, Album, 3.10.2015)