"400 Quadratmeter zu zehnt? Also ich bezeichne das als sozialen Luxus": Marco Gähler.

Foto: Czaja
Fotos: Walter Mair, Johannes Marburg
Fotos: Walter Mair, Johannes Marburg

"Mehr als Wohnen": Innen- und Außenansichten des Hunziger-Areals in Zürich.

Fotos: Walter Mair, Johannes Marburg

"Komm rein in die Stube!", sagt Marco Gähler, 27 Jahre alt, gefühlte 2,10 Meter groß bis zu seinem Scheitel, rollt lautlos ins Wohnzimmer und platziert sich mit einer halben Pirouette rücklings auf die Couch. "Die Wohnung ist so groß, dass ich manchmal Lust habe, ein paar Runden zu drehen und neue Figuren auszuprobieren, einfach so." An seinen Füßen hat er ein Paar Skaterschuhe festgeschnallt, solche, die man normalerweise in einer Halfpipe vorfindet, gewiss nicht zwischen Vorzimmer und Küche. "Ich weiß, das sind ungewöhnliche Hausschuhe. Man gewöhnt sich dran."

"Mehr als Wohnen"

Marco ist Physiker, Chemiker und IT-Programmierer und wohnt im sogenannten Cluster-Haus auf dem neu bebauten Hunziker-Areal im Norden Zürichs. Früher wurden hier Betonfertigteile für die ganze Schweiz hergestellt, heute stehen hier 13 Wohnhäuser mit insgesamt 450 Wohnungen, die unter dem vielversprechenden Titel "Mehr als Wohnen" firmieren. Neben den Duplex Architekten, die das in Ziegel und Beton errichtete Cluster-Haus geplant haben, sind noch einige andere Zürcher Architekturbüros mit von der Partie. Die Mischung könnte wilder nicht sein.

"Mehr als Wohnen" bedeutet: Die Bewohnerinnen und Mitglieder der Genossenschaft verzichten auf ihr eigenes Auto und somit auch auf einen in der Regel kostspieligen Garagenplatz. Im Gegenzug wird ihre Askese mit mehr oder weniger luxuriösen Service-Zuckerln belohnt. Das Angebot erstreckt sich von Carsharing und Elektromobilität über Gemeinschaftsküchen, Glashäuser, Kräuterbeete bis hin zu im Haus integrierten Hotelzimmern für den Tantenbesuch aus Übersee. Vor allem aber besticht die Wohnhausanlage, an der sich mehr als 60 Zürcher Wohnbaugenossenschaften beteiligt haben, durch ein enormes Potpourri an neuen Wohn- und Grundrisstypologien.

Rückzugsbereich

"Ich finde diese Wohnung klasse", sagt Marco. "Ich habe zwar schon mal in einer Wohngemeinschaft gelebt, aber hier hat jeder seinen eigenen Rückzugsbereich, und es gibt kein Anstellen am WC und keine Streitereien wegen der Zahnpastatube." Jeder Cluster besteht aus einem rund 200 Quadratmeter großen Wohnbereich für alle, dazwischen liegen – wie Häuser rund um einen Dorfplatz – kleine, autarke Einlieger-Miniwohnungen mit Wohn- und Schlafbereich, Teeküche und eigenem Duschbad. Die Türen stehen die meiste Zeit offen. Ab und zu nur verkriecht sich jemand und ward einen ganzen Tag lang nimmer gesehen.

"400 Quadratmeter zu zehnt, mit einer riesigen Wohnküche, einem 30 Meter langen Wohnzimmer, das uns ehrlich gesagt viel zu groß ist, einer überdurchschnittlich großen Loggia, auf der man mit Freunden grillen und Partys feiern kann, und das alles mitten in Zürich ...", erzählt Marco mit einem immer breiter werdenden Grinser und einer gewissen Süffisanz in seiner schwyzerdütschen Stimme, "also ich würde das schon als sozialen Luxus bezeichnen."

Zwei Etagen über ihm wohnt Karl Klisch. Der 49-jährige Tierarzt stammt aus Hamburg und lebt nun seit knapp über einem Jahr in Zürich. "Wenn ich schon einen Tapetenwechsel vornehme, dann will ich auch eine neue Art des Wohnens ausprobieren", sagt er. "Ich finde dieses Projekt und diese Form des Zusammenlebens extrem bereichernd. Ich genieße das Miteinander." Vis-à-vis wohnt Anna Hambitzer, 28 Jahre alt, Physikerin und Elektromedizinerin. "Hier zu sein ist wirklich mehr als nur wohnen", sagt sie. "Dieses Haus ist ein Beitrag für ein zukünftiges, gesellschaftsübergreifendes Koexistieren, weit über die klassische Studenten-WG hinaus."

Mietvertrag nach sechs Monaten

Ungewöhnlich ist jedoch nicht nur der Wohnungsgrundriss, sondern auch das Vermietungsmodell. "Bereits eine kleine Gruppe von nur drei Leuten kann sich bei uns für eine Wohnung anmelden", sagt Andreas Hofer, Geschäftsführer der eigens für dieses Projekt gegründeten Super-Baugenossenschaft Mehr als Wohnen. "Danach haben die Leute ein halbes Jahr Zeit, um in Eigeninitiative eine größere Wohngemeinschaft zu formieren. In dieser Zeit unterstützen wir sie finanziell, damit sie die Gesamtmiete nicht allein aufbringen müssen."

Erst nach Ablauf dieser Frist startet der Mietvertrag mit der Genossenschaft. Die WGs sind von nun an autark und kümmern sich selbstständig um die Belegung und Nachvermietung ihres Wohnungsclusters. "Indem man Verantwortung abgibt, stärkt man bei den Bewohnerinnen und Bewohnern ein Stück weit auch den Gedanken eines Miteinanders", so Hofer. "Manche Genossenschaften haben dieses Modell bereits seit über zehn Jahren im Portfolio. Es funktioniert perfekt."

Die Mieten im Clusterhaus liegen je nach Größe, Stockwerk und Himmelsausrichtung zwischen 4000 und 6000 Franken, rund 3700 bis 5500 Euro. Obwohl jeder einzelne Mieter einen eigenen Mietvertrag bekommt, obliegt es der Wohngemeinschaft zu entscheiden, wie diese für die monatliche Miete aufkommen will. Manche WGs haben den Gesamtpreis einfach nur durch die Anzahl der Bewohner dividiert, andere haben komplizierte Formeln entwickelt, die die Größe der privaten Einliegerwohnung sowie eine anteilige, mal gesiebtelte, mal geachtelte, mal geneuntelte Nutzung der Gemeinschaftsflächen berücksichtigt. Schweiz halt.

"Die Wohnform der Zukunft"

"Ich denke, dass sich diese großstädtische Wohnform in Zukunft noch dramatisch weiterentwickeln wird", sagt Dan Schürch, Projektleiter im zuständigen Architekturbüro Duplex. "Das Cluster-Wohnen ist für mich die moderne Variante der Großfamilie mit all ihren gesellschaftlichen Absicherungen wie Kinderbetreuung, Krankenpflege und ganz alltäglicher Hilfe im Alter, so wie man das von Bauernhöfen von früher kennt. In diesem Fall bloß haben wir das soziale Programm auf eine moderne, 400 Quadratmeter große Passivhauswohnung umgemünzt."

In Österreich, und da vor allem in und um Wien, haben sich in den letzten Jahren schon etliche Baugruppen formiert, die bereits Erfahrung mit Autarkie, Selbstorganisation und der großen Bürde und Würde der Eigenverantwortung machen konnten. Allerdings beschränkt sich dieses Modell auf Wohnen im Eigentum. Der nächste Schritt wird sein, auch Mieterinnen und Mietern diese Freiheiten zuzugestehen. Um ein so innovatives Projekt wie "Mehr als Wohnen" auch hierzulande zu realisieren – dazu braucht es nicht nur mutige Bauträger, frisch durchlüftete Behörden, sondern auch ein völliges Umdenken der Bauordnung, der Förderrichtlinien und nicht zuletzt des spröden, veralteten Mietrechtsgesetzes. (Wojciech Czaja, 7.10.2015)