Das Meer ist nie fern: Edward Munchs "Frauenkopf am Strande", ein Farbholzschnitt des Expressionisten aus dem Jahr 1899.

Foto: Reto Rodolfo Pedrini, Zürich

Wien – Die dunkle, kalte Jahreszeit steht vor der Tür. Es ist also der richtige Zeitpunkt, um mit dem norwegischen Philosophen Søren Kierkegaard wieder einmal die nackte Wahrheit über das Leben auszusprechen: Es ist eine Krankheit, die zum Tod führt, ein einziges, großangelegtes und komplett sinnloses Verfallen. So! – Eine gar trostlose Weltsicht? Eh. Aber von der Erfahrung her gut abgesichert. Kein Mensch hat bisher das Leben überlebt, und ein tieferer Sinn zeichnet sich auch nicht ab.

Die Meisten werden solchem Pessimismus trotzdem nicht zustimmen. Sie haben Partnerschaft, Religion oder ihren Garten zum Sinn erklärt oder andere Strategien gefunden, die Sinnlosigkeit zu vergessen oder zu ignorieren. Manche Glückliche kämen gar nicht auf die Idee, von "Strategien gegen die Sinnlosigkeit" zu sprechen, weil selbige für sie gar keine Kategorie ist. Einer, der zu diesen sicher nicht zu zählen war, ist Edvard Munch (1863-1944).

Er erkenne alle Menschen hinter ihrer Maske, schrieb er einmal: "Ich sehe lächelnde, ruhige Gesichter, bleiche Gesichter, die rastlos davoneilen, auf einem gewundenen Weg, an dessen Ende das Grab lauert." Zeitlebens gelang es dem Maler nicht, den dem Leben innewohnenden Tod links liegen zu lassen. Eine Strategie fand aber bekanntlich auch er: die Kunst. Sie schöpft aus diesem Leiden an der Existenz und ist ein Panorama des Siechens, des Todes, des Verlorengehens, der Einsamkeit. Alles Glück darin ist Illusion, nur dazu da, beim Zerplatzen noch größere Leere zu hinterlassen. "Ohne Lebensangst (...) wäre ich ein Schiff ohne Ruder gewesen", schrieb Munch.

Experimentierlust und -leid

Liebe, Tod, Einsamkeit heißt nun auch jene große Munch-Ausstellung, mit der die Albertina den Sommer zu Grabe trägt. Man nähert sich dort allerdings nicht dem Maler Munch, sondern dem Drucker: Rund 100 Lithografien oder Holzschnitte sind zu sehen, eigenständige Werke, aber auch Kopien bekannter Gemälde, unter anderem von Der Schrei. Das einzige Manko der Schau ist die Idee, die Arbeiten an gachgrünen und -blauen Wänden zu zeigen.

Bei seinen Drucken ließ Munch indes einer ungemeinen Experimentierlust freien Lauf, verknüpfte zwanglos verschiedene Techniken und erzeugte aus ein und demselben Druckstock Bilder mit immer neuen Variationen und Untertönen. Er änderte Bildausschnitte, ergänzte malerisch Motive oder fügte einer Madonna einen Rahmen aus Spermien hinzu. Die Frage, was Spermien auf einem Madonnenbild verloren haben, das Körperlich-Banale in unmittelbarer Nähe des Vergeistigten, erhellt indes die Moderne, deren Ikone Munch geworden ist: Rettete sich der Vater nach dem Tod der Mutter und der Schwester in die Religion, war Edvard schon ein Kind dessen, was Georg Lukacs später als "transzendentale Obdachlosigkeit" bezeichnen wird.

Seit Kant die Götter als menschengemacht erklärt hatte, gab es weltanschaulich Wildwuchs, in den sich im Laufe des 19. Jahrhunderts auch die Naturwissenschaften immer stärker einmischten, mit Darwin, Röntgenstrahlen, Freud. Munchs Kunst – in der auch das Meer der Romantiker nie fern ist – ist auch ein furioser Versuch, in diesem weltanschaulichen Chaos Halt zu finden. In seiner Darstellung der Frau als Vampir lassen sich etwa abstruse Ideen wiedererkennen, wonach die Frau dem Mann über das Sperma auch die Lebenskraft raube.

Eine Besonderheit an Munchs Drucken ist, dass sie die Holzmaserung stark ins Motiv einbeziehen. Allerdings sollte man sich hüten, zu viel in die Drucke Munchs hineinzuinterpretieren.

Es spricht einiges dafür, dass Munch, als er in den 1890er-Jahren zu drucken begann, vor allem nach neuen Verbreitungsmöglichkeiten für seine Gemäldesujets suchte. Das könnte erklären, wieso er mit seinen Drucken sehr schleißig umging. Nicht nur soll in seinem Lager ein gewaltiges Chaos geherrscht haben, in dem auch Feuchtigkeit und Schimmel mitgestalteten. Eine Anekdote weiß auch davon zu berichten, dass Munch zwischenzeitlich Drucke (!) behelfsmäßig als Kochtopfdeckel verwendet haben soll. (Roman Gerold, 3.10.2015)