Younn Locard, Florant Grouazel
Éloi

Avant-Verlag 2015
224 Seiten, 30,80 Euro

Avant

"Was für ein Abenteuer! Ein Kanake in Paris. Du wirst als Erster deiner Rasse Frankreich sehen!" Pierre Delauney ist begeistert. Delauny ist Naturforscher an Bord der französischen Fregatte "Renommée". Ihr Ziel: Die Inseln Neukaledoniens zu kartieren. Delauny kann den Kapitän überzeugen, einen der Inselbewohner mitzunehmen – zu Forschungszwecken. Er nennt den jungen Mann "Éloi", den von Gott Auserwählten.

"Éloi" ist der Titel der Graphic Novel aus dem Avant-Verlag, die die lange Fahrt von der Südseeinsel nach Lyon nachzeichnet. Eine Fahrt, welche die Grausamkeiten der kolonialistischen Weltsicht und deren Verständnis von Wissenschaft auf den Punkt bringt – und nicht zuletzt zum Verhängnis für "den Auserwählten" wird.

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Es dürfte ein Zufall sein, dass kurz nach dem großartigen Comic "Humboldts letzte Reise", vor kurzem hier besprochen, nun wieder eine grafische Aufarbeitung der Entdeckungsreisen des 19. Jahrhunderts erschienen ist, und zwar wieder von französischen Autoren. Im Unterschied zu "Humboldts letzte Reise", die ins Fantastische abdriftet, erzählen die Bretonen Younn Locard (Text) und Florent Grouzel (Text und Zeichnungen) in ihrem Comic-Debüt eine düstere Geschichte, wie sie auch in der Realität hätte stattfinden können.

Kannibalismus-Gerüchte

Es ist 1837 und in Neukaledonien stößt die Mannschaft der "Renommée" auf ein Volk, das sie zugleich fasziniert und verängstigt. Im Dschungel werden des Nachts für die Europäer höchst okkulte Zeremonien abgehalten, schnell machen Gerüchte über Kannibalismus die Runde. Dass mit Éloi ein Vertreter dieses Volkes an Bord geht, löst Unmut aus.

Nur Delauney scheint ein ernsthaftes Interesse an dem jungen Mann zu haben und setzt sich für ihn ein. Der Forscher hatte immerhin auch versucht, die Riten der "Eingeborenen" heimlich zu beobachten. Was dieser als "Revolution für die Naturwissenschaft" bezeichnet, hält der Schiffspater Étienne nur für eine Verhöhnung von Moral und Glauben, schlicht für "abartiges Teufelswerk".

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Und so heizt die Präsenz von Éloi an Bord heftige Diskussionen an, nicht nur unter den einfachen Matrosen, sondern vor allem in der Führungsetage der "Renommée". Wissenschaftliches Interesse stößt auf religiöse Prinzipien, Ansätze ethnologischer Forschung auf derben Rassismus. Zwischendrin versucht Kapitän Dessailly bedacht zu vermitteln. Womit er letztlich keinen Erfolg hat. Denn während in den luxuriösen Kabinen der Offiziere Argumente für und wider die "Wilden" gewälzt werden, entladen sich unter Deck aufgestaute Aggressionen. Der anfangs sprachlose Éloi, dem jegliche Gepflogenheiten der Crew fremd sind, scheint das perfekte Opfer.

Zusammengeschlagen und getauft

Zuerst zusammengeschlagen und dann getauft – diese Szene zeigt recht eindrücklich die Doppelbödigkeit der christlichen Moral. Von den Kommandanten wird Éloi bestenfalls wie ein Kind behandelt und bei jeder Gelegenheit gedemütigt, von den einfachen Seemännern brutal misshandelt. Umso mehr, als seine Rolle nicht klar ist – ein Matrose, der wie alle anderen seine Hängematte im Schichtwechsel teilt und doch zugleich bei den Gelehrten ein- und ausgeht, um Sprache und katholische Werte zu lernen. Das geht nicht lange gut.

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Die ohnehin beschwerliche Überfahrt durch tückische Passagen und wilde Stürme entwickelt sich zu einem immer nervenaufreibenderen Kammerspiel. In der Enge des Schoners, im Mikrokosmos von strikter Hierarchie, Machtmissbrauch und latenter Homoerotik, baut sich eine unheilvolle Spannung auf. Wäre nicht die omnipräsente Gewalt, die das Buch immer wieder explizit zeigt, könnte man von einer Art "Downton Abbey" auf hoher See sprechen, gemixt mit einem Schuss "Corto Maltese".

Vom Opfer zum Täter

Während der monatelangen Fahrt bleibt jedenfalls keiner der Handvoll Protagonisten der, für den man ihn gehalten hätte. Vor allem aber bleibt Éloi nicht lange in der Opferrolle und beginnt, sich zur Wehr zu setzen. Eine weitere Bestätigung für die Männer (Frauen kommen in dem Buch gar nicht vor), dass Éloi eine Gefahr darstellt.

Man sieht dem Buch an, dass seine Autoren ganz genau die Vorgänge auf einem Schiff kennen – so detailliert ist es gezeichnet, dass man gleich ein Tau packen will und beinahe das Schwanken unter den Füßen spürt. Die Bilder gehen einmal sehr nah und dann wieder in die einsame Weite des Meeres, über dem schwer die lateinische Liturgie des Schiffspfarrers liegt.

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Getunkt nur in ein kühles Nachtblau und gezeichnet im unaufgeregten typisch französischen Stil, zeigt "Éloi" aus dem Blickwinkel der Kolonialisten, was es Mitte des 19. Jahrhunderts bedeutete, bisher unbekannte Völker zu "entdecken". Mit einer "wilden Bestie" im Gepäck konnte sich so mancher von den altehrwürdigen Akademien verlachter "Naturforscher" vor großem Publikum profilieren. Nicht zuletzt wurden unter dem Deckmantel der Wissenschaft ganz einfach Verbrechen an Mensch und Menschlichkeit begangen. Schnell zeigt sich auch an Bord der "Renommée", wer die wahren Bestien sind.

Mit dem Schiff als Schauplatz, wo alle sozialen Schichten auf engstem Raum miteinander leben, brauen Locard und Grouzel ein Destillat des vorherrschenden wissen- und gesellschaftlichen Diskurses zusammen – in einer Zeit, in der die Evolutionstheorien Lamarcks gerade eingesickert waren, Schädelanatomie als Erklärung für zivilisatorische Unterschiede en vogue war und Positivismus auf Christentum traf. Vor allem aber ist das Buch ein zwischenmenschliches Drama, das nicht einfach nur die Frage nach Ethik in der Wissenschaft aufwirft – sondern das vor allem auch von Fremdenfeindlichkeit handelt. (Karin Krichmayr, 6.10.2015)