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Wer ins Parlament und ins Wiener Rathaus darf, darauf haben Einwohner ohne österreichische Staatsbürgerschaft keinen Einfluss.

Foto: APA/ROLAND SCHLAGER

Wien – Bernhard Purin hat ein Stück München mitgestaltet, und beileibe kein unbedeutendes. Vor mehr als 13 Jahren wurde der Kulturwissenschafter zum Gründungsdirektor des dortigen Jüdischen Museums ernannt, das – basierend auf seinem Konzept – 2007 eröffnet wurde. Dass jemand wie Purin auch bei Wahlen ein Recht auf Mitbestimmung über die zukünftige Entwicklung seines Wohnortes hat: nur konsequent. So wie alle EU-Bürger darf auch er als Ausländer auf Kommunalebene wählen. Das ist EU-Recht und somit in allen Städten und Gemeinden der Union selbstverständlich.

In allen? Wäre Bernhard Purin nicht gebürtiger Bregenzer in der Millionenstadt München, sondern ein paar Kilometer entfernt am deutschen Ufer des Bodensees geboren und in der Millionenstadt Wien lebend, er wäre von der Stadtpolitik faktisch ausgeschlossen. Denn Wien ist nicht nur Bundeshauptstadt, sondern auch Bundesland. Wahlrecht auf Kommunalebene heißt hier, dass man die jeweilige Bezirksvertretung wählen darf, aber nicht den Gemeinderat. Vom Nationalrat ganz zu schweigen.

Demokratie nach Ausschlussprinzip

Mit rund 410.000 Menschen ist mittlerweile gut jeder vierte Wiener vom Wahlrecht auf Landes- und Bundesebene ausgeschlossen: Zum Wahltag, dem 11. Oktober, sind 26,5 Prozent der über 16-Jährigen mit Hauptwohnsitz in Wien nicht wahlberechtigt. 14,7 Prozent dürfen als Drittstaatsangehörige nicht einmal bei den Wahlen zur Bezirksvertretung partizipieren. Die zweite Gruppe, im Ausland geborene EU-Bürger, ist fast genau so groß. Laut vorläufigem Wählerverzeichnis ist ihre Anzahl seit der letzten Wahl vor fünf Jahren um 70 Prozent auf nun 184.000 gestiegen. Österreichweit sind mehr als eine halbe Million über 16-Jährige im EU-Ausland geboren.

In manchen Wiener Stadtteilen wird das Ausschlussprinzip besonders strapaziert. Der Bezirk mit dem höchsten Ausländeranteil ist Rudolfsheim-Fünfhaus. Im 15. sind rund 40 Prozent der Bevölkerung von der Mitbestimmung auf Gemeindeebene ausgeschlossen. Mit 22,8 Prozent ist auch mehr als jeder Fünfte von der Bezirksvertretungswahl disqualifiziert.

Mehr als ein Viertel aller über 16-Jährigen Wiener darf am Sonntag nicht den Gemeinderat wählen. (Daten: MA 23)

Politikwissenschafter weisen angesichts solcher Zahlen auf ein wachsendes Demokratiedefizit hin. Rainer Bauböck ist Professor für soziale und politische Theorie am Europäischen Hochschulinstitut Florenz und Kodirektor des Eudo Citizenship Observatory für Staatsbürgerschaftsfragen. Er plädiert für eine unterschiedliche Herangehensweise je nach Vertretungsebene: "Nationales Wahlrecht ist an die Staatsbürgerschaft gebunden und zunehmend vom Wohnsitz abgekoppelt. In fast allen europäischen Staaten können Bürger auch im Ausland ihre Stimme abgeben. Lokales Wahlrecht ist dagegen an den Wohnsitz gebunden und zunehmend von der Staatsbürgerschaft abgekoppelt."

Daher führe der Königsweg zur politischen Integration von Einwanderern auf überregionaler Ebene über den erleichterten Zugang zur Staatsbürgerschaft, auf kommunaler oder regionaler Ebene über ein Wahlrecht für Ausländer. Eine Möglichkeit wäre etwa, nicht nur EU-Bürger, sondern auch Drittstaatsangehörige zumindest auf Gemeindeebene mitbestimmen zu lassen. In zwölf EU-Staaten ist das bereits Praxis.

"Pass-egal-Wahl" soll Aufmerksamkeit wecken

Für Vertreter der Menschenrechtsorganisation SOS Mitmensch ist dies nur ein erster Schritt. Sie fordern das aktive und passive Wahlrecht für alle, die seit mindestens drei Jahren in Wien leben. Um das zu untermauern, veranstalten sie am Dienstag ihre "Pass-egal-Wahl": Zwischen 15 Uhr und 20 Uhr können in Wien Lebende mit und ohne österreichische Staatsbürgerschaft am Friedrich-Schmidt-Platz neben dem Rathaus ihre Stimme abgeben. Der Grundsatz der Liberalisierungsbefürworter: Wer von einem Gesetz betroffen ist, soll auch an seiner Entstehung teilhaben.

SPÖ und Grüne versuchten es in Wien schon einmal mit der Schaffung gesetzlicher Tatsachen. Im Jahr 2002 beschlossen sie, das Wahlrecht in den Gemeindebezirken auch auf Nicht-EU-Ausländer auszudehnen, die seit mindestens fünf Jahren ihren Hauptwohnsitz in der Stadt haben. Der Verfassungsgerichtshof erklärte die Änderung allerdings für rechtswidrig. Spätestens seitdem ist klar: Für ein weitergehendes Ausländerwahlrecht bedarf es einer Änderung der Bundesverfassung. Die notwendige Zweidrittelmehrheit im Nationalrat ist derzeit Utopie.

Keine Änderung in Sicht

Das eherne Gegenargument von ÖVP und FPÖ: Wahlrecht ist Staatsbürgerschaftsrecht und muss es bleiben. Die Debatte taucht zuverlässig alle paar Jahre aus der Versenkung auf und nach Verfestigung der Fronten ebenso schnell wieder unter. Für Politikwissenschafter Peter Hajek wird sich dies angesichts der allgegenwärtigen Flüchtlingsthematik auch nicht so schnell ändern: "In der jetzigen Situation wäre eine Ausdehnung des Ausländerwahlrechts wohl besonders schwer durchzubringen." Die meisten Österreicher hätten tief verinnerlicht, dass das Wahlrecht an die Staatsbürgerschaft gekoppelt ist.

Also setzen die Reformisten auch hier an: Während die Änderung des Wahlrechts außer Reichweite ist, ließe sich das Staatsbürgerschaftsrecht leichter ändern, und zwar mit einfacher Mehrheit. Fast auf den Tag genau ein Jahr vor der Wien-Wahl fand zu dem Thema ein Expertenhearing im Innenausschuss des Nationalrats statt. Breiter Tenor: Österreich solle sich dem europäischen Trend in Richtung Erleichterung von Doppel- und Mehrfachstaatsbürgerschaften nicht verschließen. Kritiker, wenn auch in der Minderheit, befürchteten hingegen Interessen- und Loyalitätskonflikte.

Restriktives Österreich

Auch abgesehen von der Frage der Doppelstaatsbürgerschaft gilt Österreich in Einbürgerungsfragen als eines der restriktivsten Länder Europas. Die größte Hürde sind meist die Kosten. Landes- und Bundesgebühren betragen je nach Bundesland, Aufenthaltsdauer und Einkommen zusammengerechnet mindestens 830 Euro, können aber in die Tausende gehen. Wollen mehrere Familienangehörige Österreicher werden, erhöht sich der staatliche Obolus entsprechend. Der bürokratische Aufwand ist schließlich enorm. So muss etwa festgestellt werden, ob der Betreffende das Kriterium eines gesicherten Lebensunterhalts erfüllt. Geprüft werden unter anderem Mietkosten, Kreditraten und Unterhaltspflichten.

Seit einer Novelle aus dem Jahr 2013 dürfen bestimmte Gruppen wie EWR-Bürger, Asylberechtigte und Eheleute nach einer verkürzten Frist von sechs Jahren um eine Einbürgerung ansuchen. Ansonsten gilt die Standardfrist von zehn Jahren dauerhaften Aufenthalts. Die Zahl der Einbürgerungen ist in der jüngeren Vergangenheit enorm zurückgegangen. Wurden im Jahr 2004 noch mehr als 40.000 Staatsbürgerschaften verliehen, so waren es in den vergangenen fünf Jahren nur mehr zwischen 6.000 und 8.000. Im Jahr 2014 waren es exakt 7.570.

Die meisten Experten plädieren dafür, dem Beispiel anderer Länder zu folgen und das Abstammungsprinzip im österreichischen Staatsbürgerschaftsrecht zumindest mit einem teilweisen Geburtslandprinzip zu kombinieren. Politikwissenschafter Gerd Valchars gab bei dem Hearing im Nationalrat zu bedenken: Jedes sechste Kind, das derzeit in Österreich auf die Welt kommt, ist Ausländer. Pro Jahr sind das rund 13.000 Kinder. Obwohl hier geboren, bleiben ihnen viele Rechte verwehrt, so Valchars. Kritisch sieht er die bestehende Koppelung der Staatsbürgerschaft an eine bestimmte Einkommenshöhe. Man schaffe damit ein "Zensuswahlrecht durch die Hintertür".

Pattstellung

Auch in dieser Frage herrschen klar abgesteckte Positionen: SPÖ, Grüne und Neos fordern unter anderem, das Geburtslandprinzip zu verankern, Doppelstaatsbürgerschaften zu ermöglichen und beim Einkommensnachweis eine Ausnahme für Härtefälle einzuführen. ÖVP und FPÖ hingegen folgen der Prämisse, der Erwerb der Staatsbürgerschaft müsse Endpunkt einer gelungenen Integration und an strenge Kriterien geknüpft bleiben.

Bernhard Purin hat doppelt Glück. Er ist nicht nur einer der laut Schätzungen rund 250.000 Auslandsösterreicher im wahlfähigen Alter, die ihre Stimme ganz unbürokratisch per Briefwahl abgeben können. Ihm ist außerdem die österreichische Politik näher als die deutsche, sagt er. Wäre es umgekehrt, seine Stimme bliebe ungehört. So wie die von jedem vierten Wiener. (Simon Moser, 6.10.2015)