Der 25. Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung wird von den Auswirkungen der Flüchtlingskrise und den Spekulationen über den Anfang vom Ende der Ära Merkel überschattet. Noch im Sommer feierte man die in Europa einmalige Stabilität der deutschen Regierung und vor allem die seit zehn Jahren regierende Bundeskanzlerin Angela Merkel. Vier Wochen nach deren Entscheidung, die Flüchtlinge vom Budapester Ostbahnhof nicht zurückzuweisen, ist sie in den Umfragen auf den vierten Platz abgestürzt. Während man im Ausland Merkels "edler und kluger Haltung" (Adam Michnik, der polnische Bürgerrechtler und Chefredakteur der führenden Tageszeitung Gazeta Wyborcza) überwiegend Respekt zollt, sie sogar wegen ihrer Flüchtlings- und Ukrainepolitik als Kandidatin für den Friedensnobelpreis favorisiert, spiegeln die Meldungen der letzten Tage aus Deutschland einen noch vor einigen Monaten unvorstellbar schnellen Zerfall ihrer Autorität.

Es geht nicht mehr nur um die zügellosen Angriffe ihres "Parteifreundes", des CSU-Chefs und bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer, der Viktor Orbán demonstrativ zur CSU-Tagung nach München einlud und dessen perfide Attacken auf Merkels "moralischen Imperialismus" lächelnd quittierte. Nicht nur in Bayern, sondern auch in der CDU und sogar bei der SPD glauben viele Abgeordnete und örtliche Funktionäre, dass Merkel mit Ihrem Satz "Wir schaffen es!", dem Hinweis, dass es keine Obergrenze für Asyl gibt, und mit den im Netz verbreiteten Selfies mit Flüchtlingen den Zustrom nach Deutschland wenn nicht ausgelöst, so doch angespornt habe.

Besonders bedenklich erscheint es, dass angesichts der anhaltend hohen Flüchtlingszahlen auch Sprecher des Koalitionspartners SPD nach der anfänglichen Rückendeckung für Merkel nun öffentlich eine Eindämmung des Zustroms durch eine Kursänderung fordern: "Wir sind am Limit. Eine ungesteuerte Zuwanderung wird für Flüchtlinge, Behörden und die Bevölkerung nicht mehr tragbar".

Seit dem 5. September, als die Kanzlerin die Flüchtlinge aus Budapest nach Deutschland einreisen ließ, sollen mehr als 200.000 gekommen sein; doch Bayerns Innenminister Joachim Herrmann spricht bereits von 280.000 für September. Über die enormen Zahlen hinaus wächst der Unmut über die Folgen der völlig ungeordneten Einwanderung in den überfüllten Notquartieren: Massenschlägereien, sexuelle Belästigung, ethnische und religiöse Streitigkeiten, Diskriminierung der Frauen, Herausbildung von kriminellen oder Klanstrukturen.

Bundespräsident Gauck warnte in seiner Festrede zur deutschen Einheit: "Toleranz für Intoleranz wird bei uns nicht geben. Und außerdem gibt es in unserem Land politische Grundentscheidungen, die ebenfalls unumstößlich sind. Dazu zählt unsere entschiedene Absage gegen jede Form von Antisemitismus und unser Bekenntnis zum Existenzrecht von Israel."

Einer der klügsten deutschen Politiker, der christdemokratische Vordenker Kurt Biedenkopf meinte kürzlich: Merkel habe die Zeitenwende erkannt, und vor allem habe sie Mut. Für sie sei der Besitz von Macht eine Bedingung politischer Führung. Aber kein Lebensziel. (Paul Lendvai, 5.10.2015)