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Autorin und Stimmensammlerin Swetlana Alexijewitsch (67) erkundet mit sensiblem Gehör und großer Meisterschaft die Mentalitätsreste in den Nachfolgeländern der versunkenen Sowjetunion.

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Wien/Stockholm – "Die Haare werden zuerst verrückt." Mit diesem Satz beschreibt eine namenlos bleibende 57 Jahre alte Ärztin ihre Erfahrungen während des Untergangs der Sowjetunion. "Wissen Sie, wie die Haare verrückt werden? Sie werden hart wie Angelsehne."

Das Trauma, das sich hier körperlichen Ausdruck verschafft, sind die ethnisch motivierten Verfolgungen, aufgrund deren die Vielvölkerföderation zerfiel, aber auch der Abschied von einem Traum, den viele Leser aus Ländern, die keine Erfahrungen mit dem Kommunismus hatten, schwer nachvollziehen können. Auch diese Ärztin selbst nicht. "Sie müssen fragen, wie das alles zusammenpasste: unser Glück, und dass nachts Leute abgeholt wurden." Sie spricht von den Jahren, in denen der Stalinismus auf seinem Höhepunkt war. Schließlich wendet sie sich an die Schriftstellerin, der sie ihre Geschichte erzählt. "Was denken Sie über mich? Sie sind doch ein Ingenieur der menschlichen Seele."

Lebensaufgabe Sowjetunion

In dieser Bezeichnung würde sich Swetlana Alexijewitsch wohl nur bedingt wiedererkennen. Aber es dürfte ihr gefallen, dass auch noch diese Bestimmung der Funktion von Literatur klingt, als stammte sie aus einem Fünfjahresplan. Die neue Nobelpreisträgerin für Literatur stammt aus Weißrussland, sie lebt in Minsk, zu ihrer Lebensaufgabe aber hat sie es gemacht, die Sowjetunion zum Sprechen zu bringen.

Wie alle großen Reiche ist auch dieses nicht einfach verschwunden, es hat Mentalitäten ausgeprägt. In ihrem jüngsten Buch "Secondhand-Zeit": Leben auf den Trümmern des Sozialismus kommt die lange Dauer zur Sprache, die in den Seelen der Menschen Verwirrung stiftet: Krieg, Aufbau, Glasnost und Perestrojka, Tschernobyl, Kapitalismus. Kein Wunder, dass bei einem solchen Übermaß an Geschichte die Haare nicht einfach grau, sondern angelsehnenhart werden.

Dass sie auch verrückt werden können, ist ein Satz von literarischer Qualität. Aber er wurde nicht in dieser Absicht gesprochen, und auch nicht geschrieben. Alexijewitsch kommt es auf etwas anderes an. Ihre Stimme hat sie gefunden, indem sie andere Menschen zum Sprechen brachte. Ein berühmtes Buch Orlando Figes' über die Stalinzeit trägt den Titel "Die Flüsterer". Es verweist auf das inoffizielle Selbstgespräch der kommunistischen Gesellschaft, das, was man nicht laut sagen durfte. In vergleichbarer Weise, aber von der Seite der Reportage her zur Literatur kommend, hat sich Alexijewitsch schon früh mit unterschlagenen Stimmen beschäftigt, auf die sonst niemand hören wollte.

So ist es eben heute nicht mehr opportun, davon zu erzählen, wie begeistert man einmal von Stalin war, so hat man lange nicht gebührend gewürdigt, mit welchen Opfern die Frauen den Großen Vaterländischen Krieg mitgetragen haben (Der Krieg hat kein weibliches Gesicht, später folgte ein Buch über Kinder im Zweiten Weltkrieg: "Die letzten Zeugen"), so wurden die häufig jungen Männer, die in Afghanistan kämpften oder sogar fielen, nach 1989 schnell vergessen ("Zinkjungen", ein Buch, das vor dem Hintergrund der Ereignisse in der Ostukraine neue Dringlichkeit bekam). Im Zentrum dieser Collagen, in denen Zeitgeschichte als großer Chor auch von der Heldenlogik der Erzählliteratur befreit wird, steht "Tschernobyl: Eine Chronik der Zukunft".

In Rufweite zu den Stimmen

Die Katastrophe in dem Reaktor in der Ukraine betraf Weißrussland besonders stark, aber das war es nicht, was Alexijewitsch herausforderte. Sie sah hier das zentrale Ereignis des Sozialismus, ein Moment, in dem sich technokratische Gewalt endgültig gegen die Menschen wandte. Das Prinzip, dass ein einzelnes Leben im Sozialismus disponibel ist, weil man ja um das höhere Gute des Fortschritts weiß, kehrte sie um, indem sie Werke aus Sätzen, Gestammel und Gemurmel schuf. Mit einer schönen Literatur, in der ein Ich sich ästhetischen Ausdruck zu verschaffen sucht, oder mit der bürgerlichen Distanz realistischer Romane hat das nichts zu tun. Wohl aber mit dem Pathos einer Literatur, die sich als Ausdruck einer bedrängten Humanität sieht.

Konkret bedeutet das auch, dass Alexijewitsch den Diktator Lukaschenko ablehnt, der ihr Heimatland beherrscht. Sie hat sich nie dauerhaft ins Exil drängen lassen, bis heute lebt sie in Rufweite zu ihren Stimmen, eine Oppositionelle, die nicht die Sprache der Macht spricht. Eine Unbeirrbare, die sich nicht verrückt machen lässt. (Bert Rebhandl, 8.10.2015)