Genauer betrachtet geht es in dieser Geschichte nur oberflächlich um Nobukazu Kuriki, jenen Japaner, der trotz neun abhandengekommener Finger den Mount Everest besteigen wollte. Im Prinzip handelt sie vielmehr von der Frage, was Menschen für Geld alles willens sind zu tun. In diesem Fall riskieren sie offenbar mutwillig ein Menschenleben.

Müsste man den Charakter des 33-jährigen Kuriki auf den Punkt bringen, ehrgeiziger Extrembergsteiger mit Hang zur Selbstüberschätzung und -darstellung träfe es recht gut. Er gehört zu jener Sorte Mensch, die eine Seite kopfschüttelnd für verrückt hält, während ihr die andere überragenden Mut attestiert. Die Wahrheit, sie liegt womöglich irgendwo in der Mitte.

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Neun Finger hat Nobukazu Kuriki in der Todeszone des Mount Everest verloren.
REUTERS/Navesh Chitrakar

Fakt ist auf alle Fälle, dass sich Kuriki bis Donnerstagfrüh einmal mehr auf dem Weg zum Gipfel des Mount Everest befand. Es war sein sechster Versuch, den mit 8.848 Meter höchsten Berg der Welt im Alleingang und ohne Sauerstoffflasche zu besteigen. Und als wäre das alles nicht schon Risiko genug, hat er es bei einer seiner Expeditionen im Oktober 2012 auf der gefährlichen Westroute über die Hornbein-Couloir-Schlucht probiert.

Um die Herausforderung besser einschätzen zu können: Nicht vielen gelang bisher eine Solobesteigung des Everest ohne zusätzlichen Sauerstoff. Reinhold Messner war 1980 der erste, dabei beschritt er die weit weniger riskante Standardroute auf der Nordseite. Den von Kuriki gewählten Weg über die Hornbein-Couloir-Schlucht haben überhaupt erst neun Bergsteiger erfolgreich gemeistert.

In einem Schneeloch die Todeszone überlebt

Bei jenem Versuch im Oktober 2012 nun, da ging es für Kuriki wegen heftiger Winde und extremer Temperaturen von unter minus 20 Grad irgendwann nicht mehr weiter. Um in der Todeszone über 7.500 Metern dem namensgebenden Schicksal zu entkommen, grub er ein Schneeloch als Notbehausung.

Dort überlebte er tatsächlich einige Tage, wenn auch dehydriert und mit schweren Erfrierungen, bis ihn Sherpas in ein Camp auf 6.400 Meter Höhe brachten. Mit dem Hubschrauber wurde er in ein Krankenhaus nach Kathmandu geflogen, wo man ihm neun erfrorene, schwarz gewordene Finger amputierte.

Nobukazu Kuriki postete im Oktober 2012 auf Facebook ein Bild von sich und seinen erfrorenen neun Fingern, bevor sie amputiert wurden.

Drei Jahre später hat Kuriki einmal mehr der Ehrgeiz gepackt. Ende August trat er vor die Presse, um einen neuen Besteigungsversuch noch heuer anzukündigen. Abgesehen davon, dass Herbstexpeditionen weit schwieriger sind als in der regulären Saison von März bis Mai, gibt es noch andere prekäre Umstände.

Im vergangenen Jahr wurden 16 Sherpas von einer Lawine getötet, als sie die Südroute auf dem Everest für die erwarteten Expeditionen vorbereiten wollten. Nach diesem Unglück setzte eine Diskussion über die Sicherheitsvorkehrungen ein. Lange war fraglich, ob heuer Bergsteiger auf den höchsten Berg der Welt losgelassen würden.

Lange keine Lizenzen für den Everest

Die Frage erübrigte sich vorerst, nachdem bei den Erdbeben im April und Mai 8.800 Menschen in Nepal starben, darunter 18 Bergsteiger im Everest-Basislager auf 5.400 Meter Höhe. Die nepalesische Regierung gab vorerst keine Lizenzen für Gipfelstürmer aus.

Dann präsentierte das Tourismusministerium auf besagter Pressekonferenz Nobukazu Kuriki – ein öffentliches Prozedere, das eher unüblich ist. Der Japaner erhielt als Einziger die Lizenz für den Everest. Wenn er es nicht schafft, wird der 8.848-Meter-Riese im Jahr 2015 zum ersten Mal seit Jahrzehnten unbestiegen bleiben. Das will Nepal verhindern. "Kuriki macht sich in einer Zeit auf, in der in der Welt Unklarheit herrscht über die Sicherheit in Nepal", sagte Tourismusminister Kripasur Sherpa, "diese Expedition soll Besuchern zeigen, dass sie gefahrlos kommen können."

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Nobukazu Kuriki spricht Ende August über seine neuen Everest-Pläne.
Foto: REUTERS/Navesh Chitrakar

In der Bergsteigerszene sorgte dieses Unterfangen für heftiges Kopfschütteln. Ang Tshering Sherpa, Präsident der Nepal Mountaineering Association und Besitzer eines der größten Everest-Expeditionsunternehmen, bezeichnete es als rücksichtslos, jemanden im Herbst auf den Berg zu lassen. Die Tage werden kälter, führte er aus, die Wahrscheinlichkeit von Lawinen nehme zu, und die Winde können so stark werden, dass sie Menschen im wahrsten Sinne des Wortes vom Berg blasen. "Was Kuriki macht, ist sehr riskant und gefährlich."

Verzweifelte nepalesische Regierung

Elizabeth Hawley, Chronistin tausender Everest-Expeditionen, sagte der Nachrichtenagentur Reuters unverhohlen, diesen "Verrückten" bei seiner Expedition zu unterstützen zeige, wie verzweifelt die nepalesische Regierung eigentlich sei. "Sie werden alles unternehmen, damit die Leute wieder zurückkommen." Und hier kommt das Geld ins Spiel.

Nepal gilt mit einem durchschnittlichen Jahreseinkommen von umgerechnet knapp über 600 Euro als eines der 20 ärmsten Länder der Welt. In der Bergsteigersaison von März bis Mai warten hingegen Löhne von 4.000 Euro für unerfahrene Träger und bis zu 25.000 Euro für erfahrene Gruppenführer. Der Reise- und Tourismussektor machte im Jahr 2013 9,8 Prozent von Nepals Bruttoinlandsprodukt aus. Bis zum Unglück im Jahr 2014 war hier die Tendenz steigend.

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Der Mount Everest – im Herbst noch gefährlicher als sonst schon.
Foto: AP/Kevin Frayer

Ziel Nummer eins ist also, die Bergsteiger wieder auf den Everest zu bringen. Ziel Nummer zwei ist es, sie den Berg über die Südroute von Nepal aus besteigen zu lassen. Denn in Kathmandu ist die Befürchtung groß, dass wegen Sicherheitsbedenken nach den Erdbeben in Zukunft die Nordroute bevorzugt werden könnte – und die liegt auf chinesischer Seite.

Auch im sechsten Versuch gescheitert

Am 27. September musste Kiruki seinen fünften Everest-Versuch bei 7.900 Metern abbrechen. Der Schnee sei zu tief gewesen, er habe Gewicht verloren und rissige Haut bekommen, begründete er seine Rückkehr.

Am Dienstag aber verließ er Camp drei in 7.200 Metern Höhe wieder in Richtung Gipfel. Nach einigen Tagen im Lager fühle er sich wieder stark genug für die "Höhe der Götter", die er über die Südroute erreichen wollte. Am Mittwoch hieß es, dass er bald die 8.000-Meter-Grenze überschreiten werde. Donnerstagfrüh schließlich brach Kiruki seinen Versuch ab. Wegen starken Windes und tiefen Schnees sei es nicht möglich, lebend zurückzukehren, wenn er den Aufstieg fortsetze, schrieb er in seinem Blog. Daher habe er entschieden, um 3.35 Uhr Ortszeit auf einer Höhe von etwa 8.150 Metern abzusteigen. Nepal wird es nicht freuen. (Kim Son Hoang, 8.10.2015)