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Brandon Stanton fotografiert Menschen – in New York und Wien.

Foto: AP / Kathy Willens

Seine Karriere als Devisenhändler endete 2010. Damals verlor er seinen Job in Chicago. Brandon Stanton nahm es locker, kaufte eine Kamera und begann zu reisen. Nach New Orleans, Philadelphia oder New York. In New York blieb er hängen und begann, Porträts von Menschen auf der Straße zu schießen.

10.000 Fotos wollte er damals machen und sie auf einer Karte der Stadt katalogisieren. Doch sein Plan änderte sich. Im November 2010 erfand er das Facebook-Profil "Humans of New York" und veröffentlichte dort seine Fotos. Es war eine hübsche Idee, aber nicht gerade der Burner. Doch dann begann er, mit seinen Sujets zu sprechen.

Nach einem Jahr stellte der Baseballkappenträger zu seinen Fotos kleine Auszüge von dem, was ihm die Menschen in der kurzen Begegnung mit ihm erzählten. Das hat er bis heute beibehalten. Sie sprechen über Alltäglichkeiten und erschütternde Erfahrungen. Stanton dokumentiert erfolgreiche oder gescheiterte Karrieren, Triumphe und Niederlagen, Verlust, Scheitern, Liebe, das ganze Spektrum menschlichen Daseins.

Tausende Porträts sind so entstanden, seinen Eintragungen folgen am heutigen Tag mehr als 15,5 Millionen Menschen. Vor zwei Jahren erschien ein Buch mit Auszügen aus seinem Blog und wurde ein Bestseller. Der nächste Band erscheint diesen Monat.

Sein Blog ist nun nicht mehr auf New York beschränkt. Zurzeit ist Stanton in Europa unterwegs. Er porträtiert Flüchtlinge und dokumentiert ihre Erlebnisse. Es sind Geschichten, in denen syrische Kinder die Post öffnen und abgeschnittene Köpfe finden. Geschichten von Folter, Mord, Flucht, Verzweiflung und – trotz allem – Hoffnung.

Es sind Erzählungen, die die Augen ihrer Leserinnen und Leser mit Tränen fluten. Am Wochenende hat er eine Frau aus Bagdad am Wiener Hauptbahnhof fotografiert. Sie erzählt, wie ihr Vater von einer Bombe getötet wurde, als sie 15 war, wie sie seinen offenen Schädel sah und dachte, eine Operation würde das wieder gutmachen. Sie ist auf der Flucht, zurzeit ist sie bei uns.

Brandon Stanton ist 31 und stammt aus einem Vorort von Atlanta in Georgia. Der Autodidakt soll gern Biografien lesen, den Rest seines Lebens nennt er Arbeit. Um sie dreht sich alles. Er ist ein Do-it-Typ. Still sitzen und warten geht gar nicht. Das tut die Welt um ihn herum auch nicht.

Seine Begegnungen mit tausenden Menschen bestätigen das. Tagtäglich. Seit fünf Jahren. (Karl Fluch, 7.10.2015)